Nach neuesten Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind derzeit fast 1,3 Millionen Menschen in Haiti von Binnenvertreibung betroffen, was einem Anstieg von 24 Prozent seit Dezember 2024 entspricht. Damit verzeichnet das Land die höchste jemals gemessene Zahl an Menschen, die durch Gewalt vertrieben wurden, wobei Binnenvertriebene nun elf Prozent der 11,9 Millionen Einwohner repräsentieren.
„Hinter diesen Zahlen stehen so viele einzelne Menschen, deren Leid unermesslich ist: Kinder, Mütter, ältere Menschen, von denen viele mehrfach aus ihren Häusern fliehen mussten, oft ohne Hab und Gut, und jetzt unter Bedingungen leben, die weder sicher noch tragbar sind“, sagte Amy Pope, Generaldirektorin der IOM, in einer Stellungnahme am Mittwoch.
„Wir müssen dringend handeln. Die Stärke der haitianischen Bevölkerung ist beeindruckend, aber ihre Widerstandsfähigkeit kann nicht ihre einzige Zuflucht sein. Diese Krise darf nicht zur neuen Normalität werden.“
Die Bandenkriminalität in Haiti hat weiterhin verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung. Seit Anfang 2025 haben Wellen extremer Gewalt zu zahlreichen Opfern geführt. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden im ersten Quartal dieses Jahres mehr als 1.500 Menschen getötet, 570 weitere verletzt und mindestens 161 bei bandenbezogenen Gewalttaten entführt.
Der karibische Inselstaat wird seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 von Ganggewalt und Instabilität heimgesucht. Die nationale Polizei ist unterbesetzt und schlecht ausgerüstet und nicht in der Lage, die Banden zu stoppen, die die Bevölkerung insbesondere in der Hauptstadt Port-au-Prince terrorisieren.
Die anhaltende bewaffnete Gewalt hat Haiti an den Rand des Zusammenbruchs gebracht und eine schwere humanitäre Krise ausgelöst. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung, etwa 6 Millionen Menschen, sind auf Hilfe angewiesen, darunter 3,3 Millionen Kinder. Bewaffnete Gangs, die ihre Kontrolle ausweiten wollen, haben zudem massive Vertreibungen ausgelöst.
Während Port-au-Prince mit einem Anteil von etwa 90 Prozent der Stadt, der derzeit von Gangs kontrolliert wird, weiterhin das Epizentrum der Krise bildet, breitet sich die Gewalt der Gangs auch über die Hauptstadt hinaus aus. Jüngste Angriffe in den Departements Centre und Artibonite haben Zehntausende Einwohner zur Flucht gezwungen; viele leben nun unter prekären Bedingungen in Notunterkünften.
Nach Angaben der IOM hält sich fast ein Viertel aller Binnenvertriebenen noch immer in der Hauptstadt auf, doch immer mehr Menschen fliehen auf der Suche nach Sicherheit in andere Teile des Landes.
Im Norden ist die Zahl der Menschen, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, um fast 80 Prozent gestiegen. Im Departement Artibonite hat allein die Gewalt in Petite Rivière weitere Tausende aus ihren Häusern vertrieben, sodass die Gesamtzahl der Vertriebenen in diesem Gebiet auf über 92.000 gestiegen ist.
Die Lage im Departement Centre ist noch alarmierender. Durch die Kämpfe in Städten wie Mirebalais und Saut-d'Eau hat sich die Zahl der Vertriebenen innerhalb weniger Monate mehr als verdoppelt, von etwa 68.000 im Dezember 2024 auf über 147.000 im Juni. Infolgedessen sind viele Familien ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung, Schulen und sauberem Wasser und sehen sich damit noch größeren Herausforderungen für ihr Überleben gegenüber.
Vertriebene Familien lassen sich oft in informellen Siedlungen oder überfüllten Gastfamilien nieder, die nur begrenzten Zugang zur Grundversorgung haben. Da immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen sind, wächst auch die Zahl der improvisierten Vertriebenenlager.
Nach Angaben der IOM ist die Zahl der Lager für Binnenvertriebene seit Dezember von 142 auf 246 gestiegen. Der stärkste Anstieg ist in Gebieten zu verzeichnen, in denen es zuvor keine solchen Lager gab, wie beispielsweise im Departement Centre, wo es nun 85 Lager gibt.
Port-au-Prince ist nach wie vor das einzige Gebiet, in dem die Mehrheit der Binnenvertriebenen – 66 Prozent – in Vertriebenenlagern lebt, während 98 Prozent der Binnenvertriebenen in den Provinzen außerhalb der Lager leben.
Die IOM berichtet, dass sie ihre Maßnahmen im Großraum Port-au-Prince (PPMA) ausgeweitet hat und über 20.000 Menschen mit lebensnotwendigen Haushaltsgegenständen versorgt, drei Millionen Liter sauberes Wasser geliefert und 6.000 Menschen eine medizinische Grundversorgung ermöglicht hat.
Die Binnenvertriebenen benötigen in erster Linie Nahrung, Zugang zu Mitteln für ihren Lebensunterhalt, medizinische Versorgung, Wasser, Hygiene, sanitäre Einrichtungen und Unterkünfte.
Angesichts des wachsenden Bedarfs bekräftigt die IOM ihren Appell an die internationale Gemeinschaft, ihre Unterstützung zu verstärken, da ohne sofortige Finanzmittel und Zugang Millionen Menschen weiterhin in Gefahr sind.
So wichtig humanitäre Hilfe auch ist, sie allein reicht nicht aus.
Die UN-Organisation betont, dass nachhaltige Lösungen die Ursachen der Vertreibung bekämpfen, den Zugang zu grundlegenden Versorgungseinrichtungen verbessern und Jugendlichen eine Alternative zur Bandenkriminalität bieten müssen, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen und die Stabilität wiederherzustellen.
In einem Update vom Mittwoch äußerte sich das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) besorgt über den alarmierenden Anstieg der Binnenvertreibungen im Land. Das OCHA wies darauf hin, dass die drastische Verschlechterung der Lage der Vertriebenen zu einem Zeitpunkt kommt, an dem der Zugang für humanitäre Hilfe zunehmend eingeschränkt ist und die Finanzmittel weiterhin erschreckend knapp sind.
„Ohne dringende Hilfe zur Deckung des wachsenden Bedarfs und zur Bekämpfung der strukturellen Ursachen der Vertreibung wird sich die Krise weiter verschärfen und den bereits überlasteten Systemen und Gemeinden noch mehr Druck auferlegen“, so das humanitäre Amt der Vereinten Nationen.
Bis heute sind nur 8 Prozent des Humanitären Bedarfs- und Reaktionsplans für Haiti für 2025 finanziert, wobei etwas mehr als 75 Millionen US-Dollar der benötigten 908 Millionen US-Dollar eingegangen sind.
Zusätzlich zu der massiven Vertreibungskrise ist Haiti mit einer schweren Hungerkrise konfrontiert, von der mehr als die Hälfte der Bevölkerung betroffen ist. Der jüngste Bericht zur Ernährungssicherheit zeigt, dass aufgrund der unerbittlichen Bandenkriminalität und des fortschreitenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs 5,7 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte aller Haitianer – akut unter Hunger leiden.
Laut der Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen (IPC) leiden fast 6 Millionen Menschen unter akuter Ernährungsunsicherheit (IPC-Phase 3 oder schlechter) und mehr als 2 Millionen Menschen sind von einer Hungernotlage betroffen (IPC-Phase 4). Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) geht davon aus, dass über eine Million haitianische Kinder der IPC-Phase 4 ausgesetzt sind.
Gleichzeitig sind vermutlich etwa 8.400 Menschen von Hunger in katastrophalem Ausmaß betroffen (IPC-Phase 5). Die IPC-Phase 5 ist die höchste Stufe akuter Ernährungsunsicherheit. Menschen, die diese Stufe erreichen, leiden unter extremer Nahrungsmittelknappheit und schwerer akuter Unterernährung und sind vom Hungertod bedroht.
Weitere Informationen
Volltext: Haiti – Bericht über die Vertreibungssituation in Haiti – Runde 10 (Juni 2025), Displacement Tracking Matrix, Internationale Organisation für Migration (IOM), Bericht, veröffentlicht am 10. Juni 2025 (in Englisch)
https://dtm.iom.int/reports/haiti-report-displacement-situation-haiti-round-10-june-2025