Laut einem neuen Bericht der humanitären Organisation Norwegian Refugee Council (NRC) führt Burkina Faso zum ersten Mal die Liste der zehn am meisten vernachlässigten Vertreibungskrisen der Welt an. Bei der heutigen Veröffentlichung der Analyse warnte die Nichtregierungsorganisation (NGO) davor, dass die Umlenkung der Hilfe und der Aufmerksamkeit auf die Ukraine die Vernachlässigung einiger der am meisten gefährdeten Menschen der Welt verstärkt hat.
"Vernachlässigung ist eine Entscheidung - dass Millionen von Vertriebenen Jahr für Jahr ohne die Unterstützung und die Mittel, die sie so dringend benötigen, zurückgelassen werden, ist nicht unvermeidlich", sagte Jan Egeland, der Generalsekretär des NRC.

Quelle: Jacques BOUDA/NRC
Ziel des jährlichen NRC-Berichts ist es, die Aufmerksamkeit auf die Not der Menschen zu lenken, die keine oder nur unzureichende Hilfe erhalten, deren Leiden selten in den internationalen Schlagzeilen auftaucht und die nie im Mittelpunkt der internationalen diplomatischen Bemühungen stehen. Die jährliche Liste der vernachlässigten Vertreibungskrisen basiert auf drei Kriterien: Mangel an humanitärer Finanzierung, geringe Aufmerksamkeit der Medien und ein Fehlen von internationalen politischen und diplomatischen Initiativen.
Die Krise in der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo) steht in diesem Jahr an zweiter Stelle, nachdem sie seit ihrer Einführung vor sieben Jahren jedes Jahr auf Platz eins oder zwei der Liste stand. Kolumbien, Sudan und Venezuela folgen in der düsteren Rangliste. Kolumbien und El Salvador erscheinen dieses Jahr zum ersten Mal in diesem Bericht. Letztes Jahr waren nur Länder des afrikanischen Kontinents in der Liste der Krisenländer vertreten.
Der Bericht stützt sich auf die Analyse von 39 Vertreibungskrisen weltweit. Die vollständige Liste des NRC in der Reihenfolge dieses Jahres lautet: (1) Burkina Faso, (2) DR Kongo, (3) Kolumbien, (4) Sudan, (5) Venezuela, (6) Burundi, (7) Kamerun, (8) Mali, (9) El Salvador, (10) Äthiopien.
Burkina Faso hat seit Ausbruch der Krise vor fünf Jahren einen raschen und verheerenden Niedergang erlebt. Im Jahr 2022 waren 3,5 Millionen Menschen in Burkina Faso auf humanitäre Hilfe angewiesen - Anfang 2023 ist diese Zahl auf 4,9 Millionen Menschen angestiegen.
Mehr als 2 Millionen Menschen waren gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen, und fast ein Viertel der Bevölkerung in Burkina Faso benötigt jetzt humanitäre Hilfe. Im ganzen Land leben 800.000 Menschen in Gebieten, die von bewaffneten Gruppen blockiert werden und in denen sie nicht einmal Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen haben. Die Lage wird immer schlimmer, und manche Menschen sind gezwungen, Blätter zu essen, um zu überleben.
"Wir müssen mehr tun, um das Leiden in Burkina Faso zu beenden, bevor sich die Verzweiflung verfestigt und das Land in die wachsende Liste der langwierigen Krisen aufgenommen wird. Die Tatsache, dass diese Krise bereits so stark vernachlässigt wird, zeigt, dass das internationale System nicht in der Lage ist, auf neu entstehende Krisen zu reagieren, und dass es auch diejenigen im Stich lässt, die jahrzehntelang im Dunkeln standen. Letztendlich müssen wir mehr in diplomatische Lösungen investieren, wenn wir Krisen von dieser Liste streichen wollen", sagte Egeland.
Dem Bericht zufolge wurden im vergangenen Jahr mehr als fünfmal so viele Nachrichtenartikel über die ukrainische Vertreibungskrise verfasst wie über alle zehn am meisten vernachlässigten Krisen der Welt zusammengenommen. Für jeden Dollar, der im Jahr 2022 pro Bedürftigem in der Ukraine gesammelt wurde, wurden nur 25 Cent pro Bedürftigem in den zehn am meisten vernachlässigten Krisen der Welt gesammelt.
Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation wurden im vergangenen Jahr in den englischsprachigen Medien insgesamt 375.000 Artikel über die zehn am meisten vernachlässigten Vertreibungskrisen der Welt geschrieben, wie aus Statistiken der Meltwater Group hervorgeht. Im Vergleich dazu wurden im selben Zeitraum 1,98 Millionen Artikel in englischer Sprache über die Vertreibungskrisen in der Ukraine verfasst.
"Die starke Reaktion auf das durch den Krieg in der Ukraine verursachte Leid hat gezeigt, was die Welt für Menschen in Not leisten kann. Die politischen Maßnahmen für die Menschen in der Ukraine waren wirkungsvoll und schnell, die Grenzen wurden offen gehalten, es wurde viel Geld zur Verfügung gestellt und die Medien berichteten ausführlich", sagte der Generalsekretär des NRC.
"Die Verantwortlichen müssen die gleiche Menschlichkeit gegenüber den Menschen zeigen, die von Krisen in Ländern wie Burkina Faso und der Demokratischen Republik Kongo betroffen sind."
Der Analyse zufolge sind die wiederholten Warnungen vor einer Verschärfung der Ungleichheit aufgrund der Umverteilung der Mittel für die Reaktion auf die Ukraine nun Realität geworden. Die Umleitung eines Großteils der Hilfsgelder in die Ukraine und die Aufnahme von Flüchtlingen in den Geberländern hat dazu geführt, dass die Hilfe in vielen Krisensituationen zurückgegangen ist, obwohl der Bedarf gestiegen ist.
"Die Welt hat es versäumt, die Schwächsten zu unterstützen, aber das kann geändert werden. Das Leben von Millionen von Menschen, die im Stillen leiden, kann sich verbessern, wenn die Mittel und Ressourcen auf der Grundlage des Bedarfs und nicht aufgrund geopolitischer Interessen und tagesaktueller Schlagzeilen zugewiesen werden", so Egeland.
Nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) klaffte im vergangenen Jahr eine Lücke von 43 Prozent (22,15 Mrd. USD) zwischen dem, was benötigt wurde, und dem, was an humanitärer Hilfe geleistet wurde. Und nicht alle Länder tragen zur Finanzierung bei. Der Großteil der Mittel - mehr als 80 Prozent - wird von nur zehn Ländern oder internationalen Organisationen bereitgestellt. Dazu gehören einige der mächtigsten Volkswirtschaften der Welt, aber bei weitem nicht alle.
Viele der größten Wirtschaftsnationen der Welt beteiligen sich überhaupt nicht und zahlreiche andere nur in geringem Maße, was dazu führt, dass Millionen von Menschen weiter leiden. Wenn viel zu wenig Geld aufgebracht wird, sind die humanitären Organisationen gezwungen zu entscheiden, wem sie die knappen Mittel zukommen lassen.
"Wir brauchen mehr Geber und neue Geberländer, die sich an der Verantwortung beteiligen", so Egeland weiter.
Der Norwegian Refugee Council ist eine unabhängige humanitäre Organisation, die Menschen hilft, die zur Flucht gezwungen sind. Sein Hauptsitz befindet sich in Oslo, Norwegen. Die Nichtregierungsorganisation schützt und unterstützt vertriebene Menschen. Der 1946 gegründete NRC begann seine Hilfsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg und ist heute eine der größten Nichtregierungsorganisationen weltweit, die Flüchtlinge und Binnenvertriebene unterstützt.
Der Schwerpunkt des NRC liegt auf der Bereitstellung dringender humanitärer Hilfe in der Nothilfephase eines Konflikts oder einer Naturkatastrophe. Gegenwärtig arbeitet die NGO in 40 Ländern in neuen und langwierigen Krisensituationen. Im Jahr 2022 unterstützte die humanitäre Organisation weltweit fast 10 Millionen Menschen.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: The world's most neglected displacement crises in 2022, Bericht, Norwegian Refugee Council (NRC), veröffentlicht am 1. Juni 2023 (in Englisch oder in Französisch)
https://www.nrc.no/the-worlds-most-neglected-displacement-crises-in-2022/