Die humanitäre Gemeinschaft in Haiti fordert die internationale Gemeinschaft zur Mobilisierung auf, während das Land Zeuge ist einer anhaltenden Eskalation der Gewalt, die von bewaffneten Gruppen in Port-au-Prince und im Département Artibonite ausgeübt wird. In einer am Donnerstag vom Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) veröffentlichten Erklärung heißt es: "Die Welt muss jetzt handeln, um weitere Gräueltaten zu verhindern".
Allein zwischen dem 15. und 29. August seien bei erneuten Angriffen von Banden und anderen bewaffneten Gruppen im Großraum Port-au-Prince mindestens 71 Menschen getötet und verletzt worden, so OCHA. Seit Januar 2023 wurden mehr als 2.500 Menschen getötet, fast 1.000 verletzt und mindestens 970 entführt.
Weitere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe wurden gemeldet, darunter Entführungen sowie sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungen. Die jüngste Welle der Gewalt hat zur Vertreibung von mehr als 10.000 Menschen geführt, die in mehr als zwanzig spontanen Lagern und Gastfamilien Zuflucht gesucht haben.
In Haiti ist außerdem eine alarmierende Zunahme der Lynchmorde an mutmaßlichen Bandenmitgliedern zu verzeichnen. Zwischen dem 24. April und Mitte August wurden mehr als 350 Menschen von der lokalen Bevölkerung und Bürgerwehrgruppen gelyncht.
"Die humanitäre Gemeinschaft ist zutiefst besorgt über eine weitere Eskalation der Gewalt mit extremer Brutalität. Ganze Familien, darunter auch Kinder, wurden hingerichtet, andere wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Dieser Anstieg der Gewalt hat unsägliches Leid über die Haitianer gebracht", sagte der amtierende UN-Koordinator für humanitäre Hilfe, Philippe Branchat.
Während sich die humanitäre Lage in Haiti im Jahr 2023 erheblich verschlechtert hat, benötigt fast die Hälfte der haitianischen Bevölkerung humanitäre Hilfe und Nahrungsmittelhilfe.
Trotz des schwierigen Zugangs aufgrund der unsicheren Lage erreichen Hilfsorganisationen die Vertriebenen mit Soforthilfe wie Nahrungsmitteln, Wasser, Unterkünften, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsversorgung und psychosozialer Unterstützung, insbesondere für Opfer sexueller Gewalt.
Fast 200.000 Menschen mussten aus ihren Häusern fliehen, was einer Verzehnfachung innerhalb von zwei Jahren entspricht. Im Zuge der zunehmenden Vertreibung hat sich die Zahl der Zwangsrückführungen gefährdeter Haitianer aus den Nachbarländern, die mit schweren Menschenrechtsverletzungen einhergehen, im Vergleich zu 2022 vervierfacht.
"Die humanitäre Gemeinschaft fordert alle an der Krise beteiligten Akteure auf, der Gewalt sofort ein Ende zu setzen. Es kann nicht sein, dass die Menschen in Haiti weiterhin in ihren Häusern gefangen sind und nicht in der Lage sind, ihre Familien zu ernähren, Arbeit zu finden und in Würde zu leben. Die Kinder können nicht zur Schule gehen. Die Welt muss jetzt handeln, um weitere Gräueltaten zu verhindern", heißt es in der gemeinsamen Erklärung.
"Wir sind entschlossen, den Menschen in Haiti beizustehen und Soforthilfe zu leisten, um das menschliche Leid zu lindern. Wir rufen alle Beteiligten auf, unverzüglich sicheren und ungehinderten humanitären Zugang zu allen Teilen des Landes zu gewähren und die Menschenrechte sowie die humanitären Normen und Standards zu achten."
Die Sicherheitskrise in dem karibischen Land verschärft die ohnehin schon dramatische humanitäre Situation. Die humanitäre Lage im Lande wird immer düsterer und wird sich wahrscheinlich noch weiter verschlechtern. Laut Vereinten Nationen benötigen in diesem Jahr mehr als 5,2 Millionen Menschen - 46 Prozent der Bevölkerung - humanitäre Hilfe. Unter den Notleidenden befinden sich fast 3 Millionen Kinder - die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen.
Entführungen, Morde und Bandengewalt haben die wirtschaftliche Lage verschlechtert und die Unsicherheit, insbesondere in der Hauptstadt, erhöht. Banden kontrollieren oder beeinflussen 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince. Außerdem kontrollieren sie strategische Zugangswege im Land und haben ihre kriminellen Aktivitäten auf ganz Haiti ausgeweitet. Bewaffnete Gruppen begehen schwerwiegende Übergriffe gegen die Bevölkerung, einschließlich massiver sexueller Gewalt, und zwingen ganze Gemeinden zur Flucht.
Mehr als 195.000 Menschen wurden seit 2022 aufgrund der Gewalt vertrieben, und Zehntausende haben versucht, aus dem Land zu fliehen. Trotz wiederholter Aufrufe der Vereinten Nationen, Haitianer nicht gewaltsam nach Haiti zurückzuschicken, haben andere Länder in der ersten Hälfte des Jahres 2023 fast 74.000 Menschen nach Haiti zurückgeschickt.
Gewalt, weit verbreitete Armut, steigende Lebenshaltungskosten, geringe landwirtschaftliche Produktion und teure Lebensmittelimporte haben die bestehende Ernährungsunsicherheit in Haiti verschärft, so dass viele Frauen, Männer und Kinder unter Hunger und Unterernährung leiden.
Laut der jüngsten IPC-Analyse zur Ernährungssicherheit sind 4,9 Millionen Menschen - mehr als 40 Prozent der Bevölkerung - von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Etwa 1,8 Millionen Menschen leiden unter einer Hungernotlage. Die Zahl der Kinder, die an schwerer Auszehrung leiden, ist landesweit auf mehr als 115.000 gestiegen. Fast ein Viertel der haitianischen Kinder ist chronisch unterernährt.
Der Humanitäre Aktionsplan (HRP) der Vereinten Nationen für Haiti sieht 720 Millionen US-Dollar vor, um mehr als drei Millionen Menschen zu unterstützen. Bis zum 1. September war der HRP jedoch nur zu 26 Prozent finanziert. Im Juli gab das Welternährungsprogramm (WFP) bekannt, dass es gezwungen war, die Zahl der Menschen, die in Haiti Nahrungsmittelsoforthilfe erhalten, aufgrund der schwindenden Mittel um 25 Prozent zu reduzieren.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Die humanitäre Gemeinschaft in Haiti ist tief besorgt über die anhaltende Eskalation der Gewalt, UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, Pressemitteilung, veröffentlicht am 31. August 2023 (in Englisch)
https://reliefweb.int/report/haiti/humanitarian-community-haiti-deeply-concerned-about-continued-escalation-violence