Tötungen, Entführungen und sexuelle Gewalt durch kriminelle Gruppen in und um Haitis Hauptstadt Port-au-Prince haben seit Anfang 2023 dramatisch zugenommen, wobei der Staat nur schwach bis gar nicht reagiert hat, warnt die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in einem am Montag veröffentlichten Bericht. HRW erklärt, dass internationale Sicherheitsunterstützung zwar notwendig sein mag, aber Teil einer vielschichtigen Reaktion mit robusten Menschenrechtsgarantien sein sollte.
Der Bericht dokumentiert die von kriminellen Gruppen begangenen Übergriffe und die Untätigkeit des Staates in vier Gemeinden des Großraums Port-au-Prince zwischen Januar und April 2023. In Haiti ist der staatliche Apparat nahezu abwesend, es herrscht Straflosigkeit, und fast die Hälfte der Bevölkerung leidet unter akuter Nahrungsmittelknappheit.
Human Rights Watch befragte über 100 Personen, darunter 58 Opfer und Zeugen von Übergriffen in Haiti, sowie Mitglieder der haitianischen Zivilgesellschaft, Menschenrechts- und Diasporagruppen, Vertreter der UN und humanitärer Organisationen, haitianische politische Akteure und Regierungsvertreter, darunter Premierminister Ariel Henry.
Die Menschenrechtsgruppe sagte, sie habe auch Daten und Berichte von internationalen und nichtstaatlichen Organisationen, haitianischen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Medien geprüft und Videos und Fotos von gewalttätigen Vorfällen verifiziert und geolokalisiert.
In ihrem Bericht bewertete Human Rights Watch auch die humanitären, politischen und juristischen Krisen sowie der Übergriffe währende früheren internationalen Interventionen und das fortdauernde Erbe von Sklaverei, Ausbeutung und Missachtung durch die Kolonialmächte.
"Es besteht dringender Handlungsbedarf, um das extreme Ausmaß an Gewalt und die spürbare Angst, den Hunger und das Gefühl der Verlassenheit zu bekämpfen, die so viele Haitianer heute erleben", sagte Nathalye Cotrino, Krisen- und Konfliktforscherin bei Human Rights Watch.
"Internationale Unterstützung im Bereich der Sicherheit mag notwendig sein, aber sie wird wahrscheinlich nur mit einer neuen Übergangsregierung und als Teil einer vielschichtigen Reaktion mit robusten Menschenrechtsgarantien helfen."
HRW sagte, dass die Vereinten Nationen, die Vereinigten Staaten, Frankreich, Kanada, die Mitglieder der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) und andere besorgte Regierungen dringend handeln sollten, um Haiti bei der Überwindung seiner Krise zu unterstützen und einen demokratischen Übergang zu gewährleisten.
UN-Generalsekretär António Guterres wird in den kommenden Tagen dem UN-Sicherheitsrat Optionen für die Entsendung einer internationalen Truppe nach Haiti vorlegen, die auf Ersuchen des haitianischen Premierministers zur Wiederherstellung der Sicherheit beitragen soll. Kenia hat angeboten, die Führung zu übernehmen und 1.000 Polizeibeamte für eine multinationale Truppe bereitzustellen.
Im Oktober 2022 ersuchte die haitianische Regierung den UN-Sicherheitsrat um die Genehmigung einer internationalen Truppe, um die nationale Polizei bei der Beseitigung der Bedrohung durch die Banden zu unterstützen, die die Bevölkerung terrorisieren und ihren Zugang zu Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, Bildung und vielen grundlegenden Versorgungsleistungen unterbinden.
Der Antrag wurde vom UN-Generalsekretär und dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk unterstützt. Der Sicherheitsrat hat die Angelegenheit erörtert, aber noch keine Entscheidung getroffen.
Ende Juli bot Kenia an, eine multinationale Polizeitruppe zu leiten, um Haiti zu stabilisieren. Die kenianische Regierung sagte, sie werde ihr Angebot formalisieren, sobald der UN-Sicherheitsrat eine Resolution mit einem Mandat für die Nicht-UN-Truppe verabschiedet hat. Inzwischen haben die Regierungen der karibischen Länder Bahamas und Jamaika angeboten, sich Kenia anzuschließen und zu einer multinationalen Truppe beizutragen.
Human Rights Watch betonte, dass die Bemühungen einer internationalen Sicherheitstruppe zur Verteidigung wichtiger Orte und der Hauptstraßen des Landes von Initiativen begleitet werden sollten, die Arbeitsplätze, Bildung und Zugang zu grundlegenden Gütern in den derzeit von kriminellen Gruppen kontrollierten Gebieten schaffen und sicherstellen, dass die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen in glaubwürdigen, fairen und die Rechte achtenden Verfahren ermittelt und verfolgt werden.
"Die anhaltenden Hinterlassenschaften vergangener, mit Übergriffen verbundener ausländischer Interventionen in Haiti sollten keine Entschuldigung für Untätigkeit sein", sagte Cotrino.
"Sie sollten vielmehr ein Aufruf zum Handeln sein, um vergangenes Unrecht zu korrigieren und die haitianischen Bemühungen um eine echte demokratische Regierungsführung, die Achtung grundlegender Menschenrechte und ein Ende des tödlichen Kreislaufs von Gewalt und Übergriffen zu unterstützen."
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen haben kriminelle Gruppen in Haiti in der ersten Hälfte des Jahres 2023 mehr als 2.000 Menschen getötet, mehr als 1.000 entführt und die Bevölkerung mit sexueller Gewalt terrorisiert. In Haiti ist auch eine alarmierende Zunahme von Morden und Lynchjustiz an mutmaßlichen Bandenmitgliedern zu verzeichnen.
In der Hauptstadt Port-au-Prince und ihrer Metropolregion operieren etwa 150 kriminelle Gruppen, von denen viele zwei der wichtigsten kriminellen Vereinigungen angehören: der Zusammenschluss G-Pèp und die Allianz G9.
Während es der haitianischen Regierung nicht gelungen ist, die Bevölkerung vor der Gewalt dieser kriminellen Gruppen zu schützen, hat sich die Situation durch den anhaltenden Zustrom von Waffen und Munition nach Haiti, vor allem aus dem US-Bundesstaat Florida, noch verschärft, so HRW.
Vielen dieser Gruppen wird nachgesagt, dass sie Verbindungen zu hochrangigen politischen Beamten, Wirtschaftsakteuren und Polizeibeamten haben. Nach den verfügbaren Informationen gab es seit Anfang 2023 keine strafrechtlichen Verfolgungen oder Verurteilungen der für Tötungen, Entführungen und sexuelle Gewalt verantwortlichen Personen oder ihrer Unterstützer, erklärte die Menschenrechtsorganisation.
Die Sicherheitskrise verschärft die bereits katastrophale humanitäre Lage. Die humanitäre Situation im Lande wird immer düsterer und wird sich wahrscheinlich noch weiter verschlechtern. Laut Vereinten Nationen benötigen in diesem Jahr mehr als 5,2 Millionen Menschen - 46 Prozent der Bevölkerung - humanitäre Hilfe. Unter den Notleidenden befinden sich fast 3 Millionen Kinder - die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen.
Entführungen, Morde und Bandengewalt haben die wirtschaftliche Lage verschlechtert und die Unsicherheit, insbesondere in der Hauptstadt, erhöht. Banden kontrollieren oder beeinflussen 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince. Außerdem kontrollieren sie strategische Zugangswege im Land und haben ihre kriminellen Aktivitäten auf ganz Haiti ausgeweitet. Bewaffnete Gruppen begehen schwerwiegende Übergriffe gegen die Bevölkerung, einschließlich massiver sexueller Gewalt, und zwingen ganze Gemeinden zur Flucht.
Seit 2022 wurden fast 195.000 Menschen aufgrund der Gewalt innerhalb des Landes vertrieben, und Zehntausende haben versucht, aus dem Land zu fliehen. Trotz wiederholter Aufrufe der UN, Haitianer nicht gewaltsam in ihr Heimatland zurückzuschicken, haben andere Länder in der ersten Hälfte des Jahres 2023 fast 74.000 Menschen nach Haiti abgeschoben.
Gewalt, weit verbreitete Armut, steigende Lebenshaltungskosten, geringe landwirtschaftliche Produktion und teure Lebensmittelimporte haben die bestehende Ernährungsunsicherheit in Haiti verschärft, so dass viele Frauen, Männer und Kinder unter Hunger und Unterernährung leiden.
Laut der jüngsten IPC-Analyse zur Ernährungssicherheit sind 4,9 Millionen Menschen - mehr als 40 Prozent der Bevölkerung - von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Etwa 1,8 Millionen Menschen leiden unter einer Notlage der akuten Ernährungsunsicherheit. Die Zahl der Kinder, die an schwerer Auszehrung leiden, ist landesweit auf mehr als 115.000 gestiegen. Fast ein Viertel der haitianischen Kinder ist chronisch unterernährt.
Der Humanitäre Aktionsplan (HRP) der Vereinten Nationen für Haiti erfordert 720 Millionen US-Dollar, um mehr als drei Millionen Menschen zu helfen. Doch der HRP ist derzeit nur zu 25,5 Prozent finanziert. Im Juli gab das Welternährungsprogramm (WFP) bekannt, dass es gezwungen war, die Zahl der Menschen, die in Haiti Nahrungsmittelsoforthilfe erhalten, aufgrund der schwindenden Mittel um 25 Prozent zu reduzieren.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: "Leben in einem Albtraum" - Haiti braucht eine dringende, auf Rechten basierende Antwort auf die eskalierende Krise, Bericht von Human Rights Watch, veröffentlicht am 14. August 2023 (in Englisch)
https://www.hrw.org/report/2023/08/14/living-nightmare/haiti-needs-urgent-rights-based-response-escalating-crisis