Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, hat am Freitag eindringlich vor der sich verschärfenden Menschenrechtskatastrophe in Haiti gewarnt, nachdem neue Zahlen gezeigt hatten, dass der Januar der gewalttätigste Monat seit mehr als zwei Jahren war. Insgesamt wurden im vergangenen Monat mehr als 1.100 Menschen im Rahmen bandenmäßiger Gewalt getötet, verletzt oder entführt.
"Die ohnehin schon katastrophale Menschenrechtslage hat sich angesichts der unerbittlichen und sich ausweitenden Bandengewalt noch weiter verschlechtert, was katastrophale Folgen für die Haitianer hat", sagte Türk.
Mindestens 806 Menschen, die nicht an den gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt waren, wurden im Januar 2024 getötet, verletzt oder entführt. Darüber hinaus wurden etwa 300 Bandenmitglieder getötet oder verletzt, so dass sich die Gesamtzahl der betroffenen Personen auf 1.108 erhöhte - mehr als dreimal so viele wie im Januar 2023.
Nach Angaben des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) sind alle Gemeinden im Großraum Port-au-Prince von der Gewalt der Banden betroffen, da die Bandenmitglieder weiterhin um die Kontrolle von Gebieten kämpfen und ihre Aktivitäten in Gegenden außerhalb der Hauptstadt ausgeweitet haben.
Während sich der Konflikt in Haiti mit schwer bewaffneten Banden verschärft, ist die Zahl der getöteten, verletzten oder entführten Menschen im Jahr 2023 bereits sprunghaft angestiegen. Die Zahl der gemeldeten Tötungsdelikte ist im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 um fast 120 Prozent gewachsen. 2023 wurden 4.789 Opfer gemeldet. Haiti hat jetzt eine Mordrate von 40,9 pro 100.000 Einwohner, eine der höchsten der Welt.
Die Zahl der Entführungsopfer stieg von 1.359 im Jahr 2022 auf 2.490 im Jahr 2023, was einem Anstieg von 83 Prozent entspricht. Bandenbedingte Morde und Entführungen nahmen zu und zwangen Hunderttausende von Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Mehr als 313.000 Menschen waren bislang gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen. Viele haben in überfüllten und unhygienischen Unterkünften Zuflucht gesucht, was ihren Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen beeinträchtigt.
Im vergangenen Jahr dokumentierte das UN-Menschenrechtsbüro insgesamt mehr als 8.400 direkte Opfer von Bandengewalt, einschließlich getöteter, verletzter und entführter Menschen. Das ist ein Anstieg von 122 Prozent gegenüber 2022.
In einer Stellungnahme vom Freitag erklärte das OHCHR, dass die Intensität der Zusammenstöße, die in einigen Fällen mehrere Stunden dauerten, darauf hindeuten könnte, dass einige Banden kürzlich neue Munition erhalten haben. Menschen in von Banden kontrollierten Gebieten wurden gezielt angegriffen.
Die Banden setzen auch weiterhin sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen als Waffe ein und verbreiten Angst, indem sie in den lokalen sozialen Medien grausame Fotos und Videos von getöteten Menschen und vergewaltigten Frauen verbreiten.
Das UN-Menschenrechtsbüro erklärte, die Auswirkungen der "Flut von Gewalt auf Kinder" seien weiterhin besonders besorgniserregend. Im Jahr 2023 wurden 167 Kinder durch Geschosse getötet und verletzt. Einige wurden von Banden oder so genannten Selbstverteidigungsgruppen hingerichtet, weil sie mutmaßlich Rivalen unterstützt hatten, während die Rekrutierung von Kindern für Gangs weitergeht.
In Haiti ist auch eine alarmierende Zunahme der Morde und Lynchmorde an mutmaßlichen Bandenmitgliedern zu verzeichnen. Im vergangenen Jahr wurden Hunderte von mutmaßlichen Bandenmitgliedern von Einheimischen und Bürgerwehrgruppen in allen zehn Departements Haitis gelyncht.
In den letzten Wochen kam es in mindestens 24 Städten im ganzen Land, darunter auch in der Hauptstadt, zu regierungsfeindlichen Straßenprotesten und zivilen Unruhen, die von politischen Oppositionsparteien unterstützt wurden, berichtete das OHCHR. Infolgedessen mussten Schulen, öffentliche Dienste und lokale Unternehmen geschlossen werden.
Das UN-Büro sagte, dass einige Proteste gewalttätig wurden und öffentliche und private Gebäude geplündert wurden, und dass es weiterhin Bedenken über die unnötige und unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden gibt. Zwischen dem 20. Januar und dem 7. Februar wurden Berichten zufolge mindestens 16 Menschen getötet und 29 verletzt, meist bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei.
Polizeibeamte müssen bei der Bewältigung von Protesten stets die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit im Einklang mit den Menschenrechtsnormen und -standards einhalten, und die Demonstranten müssen ihre Beschwerden friedlich zum Ausdruck bringen, merkte der UN-Menschenrechtskommissar an.
"Mit jedem Tag, der vergeht, werden mehr Opfer verzeichnet. Jetzt hängt das Leben der Haitianer mehr denn je davon ab, dass die Multinationale Sicherheitsunterstützungsmission in Haiti (MSS) ohne weitere Verzögerung eingesetzt wird, um die nationale Polizei zu unterstützen und der haitianischen Bevölkerung unter Bedingungen, die den internationalen Menschenrechtsnormen und -standards entsprechen, Sicherheit zu bieten", sagte er.
Am 2. Oktober 2023 genehmigte der UN-Sicherheitsrat eine internationale Truppe zur Unterstützung der haitianischen Polizei. Auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta stimmten die Ratsmitglieder für die multinationale Sicherheitsunterstützungsmission, die nicht von den Vereinten Nationen gestellt wird. Ziel der Mission ist es, die haitianische Polizei bei der Eindämmung der zunehmenden Bandengewalt zu unterstützen und die Sicherheit in dem Karibikstaat wiederherzustellen.
Mit der Resolution 2699 (2023) wird die MSS-Mission zunächst für ein Jahr genehmigt, wobei nach neun Monaten eine Überprüfung stattfinden soll. Es ist unklar, wann die Truppe zum Einsatz kommen wird. Kenia hat sich freiwillig bereit erklärt, die Multinationale Sicherheitsunterstützungsmission zu leiten, und hat etwa tausend Polizisten zugesagt.
Am 26. Januar 2024 lehnte der Oberste Gerichtshof Kenias jedoch die geplante Entsendung kenianischer Polizeibeamter nach Haiti ab. Das Urteil erging, nachdem das Gericht in Nairobi den Plan der kenianischen Regierung, 1.000 Polizisten nach Haiti zu entsenden, im vergangenen Jahr ausgesetzt hatte.
"Wie ich immer wieder gesagt habe, ist die Verbesserung der Sicherheitslage die Voraussetzung dafür, den Kreislauf der Krisen in Haiti zu durchbrechen. Langfristige Stabilität kann jedoch nur erreicht werden, wenn die Ursachen von Armut, sozialer und wirtschaftlicher Diskriminierung und Korruption bekämpft werden", betonte Türk.
Angesichts der sich verschlechternden Sicherheitslage sind Millionen von Menschen in Haiti auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die UN warnen, dass der Zugang für humanitäre Hilfe durch die unsichere Lage stark behindert wird. Die Vereinten Nationen schätzen, dass in diesem Jahr mehr als 5,5 Millionen Menschen - fast die Hälfte der Bevölkerung - humanitäre Hilfe benötigen werden. Unter den Notleidenden befinden sich fast 3 Millionen Kinder - die höchste jemals verzeichnete Zahl.
Gewalttätige bewaffnete Banden kontrollieren einen Großteil der Hauptstadt, gewinnen zunehmend die Kontrolle über Port-au-Prince und haben sich auf andere Teile des Landes ausgebreitet. Sie haben Massaker, Entführungen, Menschenhandel und sexuelle Gewalt begangen. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen, darunter 1,6 Millionen Frauen und Kinder, leben in Gebieten, die tatsächlich von den Banden kontrolliert werden.
Die neue Welle der Gewalt wirkt sich negativ auf die haitianische Wirtschaft aus und führt zu einer zunehmenden Nahrungsmittelknappheit. Hohe Inflation aufgrund von Erpressung und Straßensperren hat Millionen von Haitianern den Zugang zu grundlegenden Gütern verwehrt.
Die sich verschlechternde Sicherheitslage hat die humanitäre Krise weiter verschärft: Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung, etwa 4,35 Millionen Menschen, sind von akutem Hunger betroffen. Etwa 1,4 Millionen Menschen leiden unter einer Hungernotlage.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Haiti: Türk warnt vor Verschärfung der Menschenrechtskrise nach dem gewalttätigsten Monat seit zwei Jahren, Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Pressemitteilung, veröffentlicht am 9. Februar 2024 8 (in Englisch)
https://www.ohchr.org/en/press-releases/2024/02/haiti-turk-warns-deepening-human-rights-crisis-following-most-violent-month