UN-Generalsekretär António Guterres sagte am Donnerstag, das haitianische Volk sei "in einem Albtraum gefangen", verursacht durch gewalttätige bewaffnete Banden, die den Inselstaat im Würgegriff haben, und er wiederholte seine Forderung nach einer internationalen bewaffneten Truppe zur Unterstützung der nationalen Polizei. Guterres rief außerdem dazu auf, zugleich an der humanitären und der politischen Front zu handeln.
"Das haitianische Volk ist in einem Albtraum gefangen. Die humanitären Bedingungen sind mehr als entsetzlich. Brutale Banden haben die Menschen in Haiti im Würgegriff", sagte der UN-Chef.
"Port-au-Prince ist von bewaffneten Gruppen umzingelt, die Straßen blockieren, den Zugang zu Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung kontrollieren und die humanitäre Hilfe untergraben", beschrieb er die Hauptstadt, die er am Samstag besuchte.
Guterres erklärte vor Reportern im UN-Hauptquartier in New York, Haiti brauche humanitäre und sicherheitspolitische Hilfe sowie einen politischen Weg aus der Krise.
"Es kann keine dauerhafte Sicherheit geben ohne eine politische Lösung, die die Wiederherstellung demokratischer Institutionen ermöglicht. Und es kann keine dauerhaften und umfassenden politischen Lösungen geben ohne eine drastische Verbesserung der Sicherheitslage", sagte er.
In seiner Pressekonferenz betonte der UN-Chef außerdem: "Die Menschen in Haiti brauchen Maßnahmen, um den dringenden humanitären Bedarf zu decken. Die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln, um das Leiden des haitianischen Volkes zu lindern".
Der humanitäre Reaktionsplan (HRP) der Vereinten Nationen für Haiti erfordert 720 Millionen US-Dollar, um mehr als drei Millionen Menschen zu helfen. Doch der HRP ist derzeit nur zu 23 Prozent finanziert.
"Ich appelliere an die Welt, eine Rettungsleine zu spannen und diese finanzielle Lücke unverzüglich zu schließen", so Guterres weiter.
Im vergangenen Oktober hatte die haitianische Regierung den UN-Sicherheitsrat um die Genehmigung einer internationalen Truppe gebeten, um die Landespolizei bei der Beseitigung der Bedrohung durch die Banden zu unterstützen, die die Bevölkerung terrorisieren und ihren Zugang zu Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, Bildung und vielen grundlegenden Dienstleistungen verhindern.
"Wir rufen nicht nach einer militärischen oder politischen Mission der Vereinten Nationen", betonte Guterres. "Wir fordern eine robuste Sicherheitstruppe, die von den Mitgliedsstaaten entsandt wird und Hand in Hand mit der haitianischen Polizei arbeitet, um die Banden zu besiegen und zu zerschlagen und die Sicherheit im ganzen Land wiederherzustellen."
Die Polizei benötigt außerdem finanzielle Mittel, Ausbildung und Ausrüstung, um die staatliche Autorität und die Dienstleistungen wiederherzustellen. Doch neun Monate später ist der Sicherheitsrat noch nicht so weit, eine Truppe zu genehmigen, und kein Land hat sich bereit erklärt, sie zu führen.
Der haitianische Außenminister Jean Victor Geneus wandte sich am Donnerstag an den Sicherheitsrat, um die Dringlichkeit des Appells der Regierung zu bekräftigen und sagte, der Rat habe die moralische Verantwortung, den "Schiffbruch" seines Landes zu verhindern.
"Der Rat versteht sehr gut, dass die Situation im Land beispiellos und katastrophal ist; der Rat versteht auch, dass er handeln muss", sagte Geneus. Er fügte hinzu, dass die Regierung flexibel und offen für alle Optionen sei, die der Sicherheitsrat in Betracht ziehen würde.
Der Karibikblock CARICOM hat auf seinem Gipfeltreffen Anfang der Woche die sich verschlechternde Lage in Haiti erörtert. Der jamaikanische Premierminister Andrew Holness unterrichtete den Rat im Namen von CARICOM. Er sagte, dass die Gruppe in den kommenden Wochen eine Gruppe ehemaliger Premierminister nach Haiti entsenden werde. Er forderte den Rat ebenfalls zum Handeln auf.
"Auch wenn wir alle unsere Solidarität bekunden, ist sie ohne dringende Maßnahmen bedeutungslos", sagte er.
Die Leiterin des Integrierten Büros der Vereinten Nationen in Haiti (BINUH), María Isabel Salvador, wies in ihrem Briefing vor dem UN-Sicherheitsrat am Donnerstag darauf hin, dass die Entsendung einer internationalen Truppe zur Unterstützung der haitianischen Nationalpolizei auf breite Unterstützung stoße.
"In der haitianischen Bevölkerung gibt es über das gesamte politische Spektrum hinweg eine breite Unterstützung für die Entsendung einer solchen Truppe. Es stimmt, dass die Diskussion über die Anwesenheit einer internationalen Truppe in Haiti gemischte Reaktionen hervorrufen könnte", sagte sie.
"Die robuste internationale Truppe, die Haiti braucht, muss die haitianische Landespolizei unter voller Achtung der nationalen Souveränität Haitis ergänzen und stärken - nicht ersetzen."
Salvador wies darauf hin, dass eine verbesserte Sicherheit und ein kontinuierlicher politischer Dialog die Möglichkeit bieten würden, Wahlen abzuhalten - ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung demokratischer Institutionen und gewählter Amtsträger auf allen Ebenen der Regierung.
"Während der politische Übergang und der Kampf gegen die Banden getrennt bleiben sollten, sind die beiden untrennbar miteinander verbunden", sagte sie.
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind mehr als 165.000 Menschen in Haiti aufgrund von Bandengewalt vertrieben worden. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) schätzt, dass rund 80 Prozent der haitianischen Hauptstadt unter der Kontrolle oder dem Einfluss von Banden stehen. Es gibt mindestens sieben große Bandenkoalitionen und etwa 200 angeschlossene Gruppen in Haiti.
Die katastrophale Sicherheitslage in Haiti hat sich seit April weiter verschlechtert. Die Gewalt geht weiter und hat sich über Port-au-Prince hinaus verschärft. Das Auftreten von Bürgerwehrgruppen macht die Lage noch komplizierter. Seit April hat das Integrierte Büro der Vereinten Nationen in Haiti die Tötung von mindestens 264 mutmaßlichen Bandenmitgliedern durch Bürgerwehrgruppen dokumentiert.
Sexuelle Gewalt, einschließlich kollektiver Vergewaltigungen und Verstümmelungen, wird von den Banden weiterhin eingesetzt, um die Bevölkerung zu terrorisieren und den von den Rivalen kontrollierten Stadtvierteln Leid zuzufügen. Der Zugang zu Bildung, Lebensmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und Gesundheitsdiensten ist durch Bandenaktivitäten stark eingeschränkt. In Gebieten, die von Bandengewalt betroffen sind, werden wirtschaftliche Aktivitäten zeitweise oder dauerhaft lahmgelegt.
Die humanitäre Lage wird immer düsterer und wird sich wahrscheinlich noch weiter verschlechtern. Die Vereinten Nationen schätzen, dass in diesem Jahr mehr als 5,2 Millionen Menschen (46 % der Bevölkerung) humanitäre Hilfe benötigen. Unter den Notleidenden befinden sich fast 3 Millionen Kinder - die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen.
Die Gewalt, weit verbreitete Armut, steigende Lebenshaltungskosten, geringe landwirtschaftliche Produktion und teure Nahrungsmittelimporte haben die bestehende Ernährungsunsicherheit in Haiti noch verschärft, so dass viele Frauen, Männer und Kinder unter Hunger und Unterernährung leiden.
Laut der jüngsten IPC-Analyse zur Ernährungssicherheit sind 4,9 Millionen Menschen - mehr als 40 Prozent der Bevölkerung - von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Etwa 1,8 Millionen Menschen leiden unter akuter Hungersnot. Die Zahl der Kinder, die an schwerer Auszehrung leiden, ist landesweit auf mehr als 115.000 gestiegen. Fast ein Viertel der haitianischen Kinder ist chronisch unterernährt.
Das Land in der Karibik ist auch weiterhin äußerst anfällig für den Klimawandel und Naturkatastrophen. Anfang Juni kamen bei tödlichen Überschwemmungen, gefolgt von einem Erdbeben, 58 Menschen ums Leben und 45 000 Haushalte wurden in Mitleidenschaft gezogen.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Pressegespräch des Generalsekretärs - über Besuche in Haiti und Trinidad und Tobago sowie über die Lage im Nahen Osten, UN-Generalsekretär, 6. Juli 2023 (in Englisch)
https://www.un.org/sg/en/content/sg/press-encounter/2023-07-06/secretary-generals-press-encounter-visits-haiti-and-trinidad-and-tobago-and-the-situation-the-middle-east
Vollständiger Text: Bemerkungen der Sonderbeauftragten Maria Isabel Salvador zum offenen Briefing des UN-Sicherheitsrats über Haiti (6. Juli 2023), Integriertes Büro der Vereinten Nationen in Haiti (BINUH), veröffentlicht am 6. Juli 2023 (in Englisch)
https://binuh.unmissions.org/en/remarks-special-representative-maria-isabel-salvador-security-council-open-briefing-haiti-6-july