Seit Oktober 2024 hat die eskalierende Bandengewalt außerhalb der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince über 1.000 Menschenleben gefordert und Hunderttausende zur Flucht gezwungen. Laut einem UN-Menschenrechtsbericht droht die Destabilisierung Haitis und anderer karibischer Länder. Während Haiti am Rande des Zusammenbruchs steht, sind mindestens die Hälfte der Bevölkerung, das heißt 6 Millionen Menschen, darunter 3,3 Millionen Kinder, auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Der Bericht des Integrierten Büros der Vereinten Nationen in Haiti (BINUH) und des Amtes des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) dokumentiert die Entwicklung der Gewaltakte der Banden außerhalb von Port-au-Prince zwischen Oktober 2024 und Juni 2025 und die daraus resultierenden Verluste an Menschenleben und Massenvertreibungen.
Der Bericht zeigt die Ausweitung der territorialen Kontrolle der Banden in den vergangenen Monaten, schwerpunktmäßig in den Departements Lower Artibonite und Centre.
Dem Bericht zufolge verfolgen die Banden offenbar das strategische Ziel, sich in Gebieten entlang der wichtigsten Straßen, welche die Departements Centre und Artibonite durchziehen, niederzulassen, um insbesondere die Routen zu kontrollieren, die die Hauptstadt mit den nördlichen Regionen und der Grenze zur Dominikanischen Republik im Osten verbinden.
"Die Menschenrechtsverletzungen außerhalb von Port-au-Prince nehmen in Gebieten des Landes zu, in denen die Präsenz des Staates äußerst gering ist. Die internationale Gemeinschaft muss ihre Unterstützung für die Behörden verstärken, die die Hauptverantwortung für den Schutz der haitianischen Bevölkerung tragen", erklärte Ulrika Richardson, amtierende Leiterin von BINUH, am Freitag in einer Erklärung.
Zwischen dem 1. Oktober 2024 und dem 30. Juni 2025 wurden dem Bericht zufolge in den Regionen Artibonite und Centre sowie in Ganthier und Fonds Parisien, die westlich des Großraums Port-au-Prince (PPMA) liegen, mindestens 1.018 Menschen getötet, 213 verletzt und 620 verschleppt.
Im gleichen Zeitraum wurden in Haiti insgesamt 4.864 Menschen getötet. Im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni wurden mindestens 3.141 Menschen getötet. Die meisten der Todesopfer waren Männer.
Der Bericht stellt fest, dass der Massenmord in Pont Sondé in der Region Lower Artibonite im Oktober 2024, bei dem mehr als 100 Menschen starben, einen Wendepunkt im Zyklus der Gewalt zwischen Banden und sogenannten „Selbstverteidigungsgruppen“ markierte.
Es folgten mehrere weitere Massentötungen, die zu Massenvertreibungen führten, so auch in Mirebalais, einer Stadt im Departement Centre, aus der anfangs des Jahres alle 100.000 Einwohner geflohen sind.
Die haitianischen Behörden setzten spezialisierte Polizeieinheiten ein, die von der Multinationale Sicherheitsunterstützungsmission (MSS) unterstützt wurden, was den Vormarsch der Banden bis zu einem gewissen Grad bremste. Aufgrund mangelnder Ressourcen waren die Behörden jedoch letztlich nicht in der Lage, die Kontrolle über die betroffenen Gebiete wiederzuerlangen.
In der vergangenen Woche warnten UN-Vertreter vor dem Sicherheitsrat der UN, dass sich die Krise landesweit verschärft und die Gefahr eines völligen Staatszerfalls zunimmt. Die MSS-Mission ist aufgrund von finanziellen und personellen Engpässen zu weniger als 30 Prozent einsatzfähig, zumal nur 991 Kräfte im Einsatz sind, weit weniger als die erwarteten 2.500.
Vor diesem Hintergrund haben die Menschenrechtsverletzungen durch Selbstverteidigungsgruppen zugenommen. In dem UN-Bericht heißt es, dass Hinrichtungen im Schnellverfahren, an denen haitianische Sicherheitskräfte beteiligt waren, auch an Personen vorgenommen wurden, die der Unterstützung von Banden beschuldigt wurden.
„Mitten in dieser nicht enden wollenden Horrorgeschichte ist das haitianische Volk gefangen, das der schrecklichen Gewalt von Banden ausgeliefert ist und Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte und Missbrauch durch die sogenannten ‚Selbstverteidigungsgruppen‘ ausgesetzt ist“, sagte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk.
„Die von uns dokumentierten Menschenrechtsverletzungen und -missbräuche sind ein weiterer Beweis dafür, warum Haiti und die internationale Gemeinschaft dringend aktiv werden müssen, um die Gewalt zu beenden.“
Laut Bericht stellt die Ausweitung der territorialen Kontrolle der Gangs ein großes Risiko für die Ausbreitung der Gewalt und die Zunahme des grenzüberschreitenden Waffen- und Menschenhandels dar.
Er fordert die haitianischen Behörden unter anderem dazu auf, die Polizei mit den notwendigen Ressourcen auszustatten, um die Banden zu bekämpfen und gleichzeitig die internationalen Menschenrechtsnormen einzuhalten.
Die Autoren des Berichts fordern außerdem die schnellstmögliche Einrichtung von Spezialeinheiten der Justiz zur Bekämpfung von Korruption und Massenverbrechen, einschließlich sexueller Gewalt.
Ferner wird die internationale Gemeinschaft aufgefordert, die volle Einsatzfähigkeit von BINUH aufrechtzuerhalten, damit das Büro die haitianische Regierung bei der Stärkung der verantwortungsvollen Staatsführung und der Gewährleistung der Achtung und Förderung der Menschenrechte beraten und unterstützen kann.
In dem Bericht heißt es, dass die Stärkung der MSS-Mission und die vollständige Umsetzung des Waffenembargos für die Wiederherstellung der Sicherheit und der Rechtsstaatlichkeit in Haiti gleichermaßen unabdingbar sind.
Um eine rasche Destabilisierung der Subregion zu verhindern, muss die internationale Gemeinschaft obendrein ihre Unterstützung für internationale und nationale Organisationen, die gefährdeten Gruppen helfen, verstärken.
Haiti ist mit einer schweren humanitären Krise konfrontiert, die durch die Eskalation der Gewalt und den damit zusammenhängenden Zusammenbruch wichtiger öffentlicher Versorgungsdienste verursacht wird. Bewaffnete Gruppen haben ihre Kontrolle über die Hauptstadt verstärkt und sich - wie der Bericht zeigt - weit darüber hinaus ausgebreitet.
Mindestens 1,3 Millionen Haitianer sind aufgrund der Gewalt Binnenvertriebene, die Hälfte davon Kinder. Seit Dezember letzten Jahres ist die Zahl der Vertriebenen um 25 Prozent gestiegen. Haiti verzeichnet derzeit den höchsten Prozentsatz an durch Gewalt vertriebenen Menschen - 11 Prozent.
Das Land gehört zu den fünf schlimmsten Krisenherden des Hungers in der Welt, in denen die Menschen von Unterernährung, extremem Hunger und Verhungern bedroht sind. Die Lage wird sich weiter zuspitzen, wenn nicht rasch Maßnahmen zur Deeskalation des Konflikts, zur Beendigung der Vertreibung und zur Bereitstellung umfassender Hilfe ergriffen werden.
Da mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter akuter Ernährungsunsicherheit leidet, ist Haiti mit einer schweren Hungerkrise konfrontiert ist. Der jüngste Bericht über die Ernährungssicherheit zeigt, dass eine Rekordzahl von 5,7 Millionen Menschen aufgrund der unerbittlichen Bandengewalt und des anhaltenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs akut von Hunger betroffen ist.
Laut der Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphase (IPC) leiden mehr als 2 Millionen Menschen unter einer Hungernotlage (IPC Phase 4). Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) schätzt, dass über 1 Million haitianische Kinder der IPC-Phase 4 ausgesetzt sind.
Darüber hinaus werden nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros Kinder in Haiti routinemäßig rekrutiert, um sich Banden anzuschließen.
Haiti gehört außerdem zu den fünf Ländern mit der höchsten Zahl von Kindern, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, und der höchsten Zahl von schweren Menschenrechtsverstößen gegen Kinder.
Trotz der katastrophalen Menschenrechtslage und der verheerenden humanitären Krise in Haiti wurden zwischen Januar und Juni dieses Jahres mehr als 121.000 Frauen, Kinder und Männer in das karibische Land abgeschoben.
UN-Hochkommissar für Menschenrechte Türk, der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi und der UN-Menschenrechtsexperte für Haiti, Bill O'Neill, haben alle Staaten aufgefordert, von der zwangsweisen Rückführung von Menschen nach Haiti abzusehen.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Verschärfung der kriminellen Gewalt in Lower Artibonite, im Departement Centre und in den Regionen östlich des Großraums Port-au-Prince, UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, Bericht, veröffentlicht am 10. Juli 2025 (in Englisch)
https://www.ohchr.org/sites/default/files/2025-07/2025-july-artibonite-and-mirebalais-EN.pdf