Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) hat am Donnerstag gewarnt, dass fast 3 Millionen Kinder in Haiti humanitäre Unterstützung benötigen - so viele wie noch nie zuvor. Die Kinder sind mit einem erschütternden Ausmaß an Gewalt konfrontiert, die den Hunger und die Unterernährung in einem Land verschärft, das bereits von Armut und einem Wiederauftreten der Cholera geplagt ist. Unterdessen tagte der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) am Freitag in einer Sondersitzung zum Thema Ernährungsunsicherheit in Haiti angesichts der sich rapide verschlechternden Lage im Lande.
"Ein Kind in Haiti zu sein, ist heute härter und gefährlicher als je zuvor seit Menschengedenken. Die Bedrohungen und Nöte, denen Kinder ausgesetzt sind, sind einfach unvorstellbar. Sie brauchen dringend Schutz und Unterstützung", sagte der UNICEF-Vertreter für Haiti, Bruno Maes, am Donnerstag.
Kinder geraten ins Kreuzfeuer oder werden direkt angegriffen, wenn bewaffnete Gruppen die Bevölkerung in ihrem Kampf um Territorium und Kontrolle terrorisieren, vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince und zunehmend auch in der benachbarten Region Artibonite.
Laut UNICEF werden Kinder auf dem Weg zur Schule getötet oder verletzt. Frauen und Mädchen sind extremer sexueller Gewalt ausgesetzt. Entführungen zur Erpressung von Lösegeld - auch von Schülern, Lehrern und medizinischem Personal - sowie Angriffe auf Schulen haben sprunghaft zugenommen. Zehntausende sind durch die Gewalt vertrieben worden.
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind mehr als 165.000 Menschen in Haiti aufgrund der Bandengewalt Binnenvertriebene. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) schätzt, dass rund 80 Prozent der haitianischen Hauptstadt unter der Kontrolle oder dem Einfluss von Banden stehen. Es gibt mindestens sieben große Bandenkoalitionen und etwa 200 angeschlossene Gruppen in Haiti.
Zugleich haben Hunger und lebensbedrohliche Unterernährung im ganzen Land ein Rekordniveau erreicht und konzentrieren sich auf die ärmsten, unsichersten und am stärksten besiedelten Viertel der Hauptstadt, wo einige Familien praktisch eingeschlossen und von lebenswichtigen Versorgungsleistungen abgeschnitten sind. Die Zahl der Kinder, die an lebensbedrohlicher Unterernährung leiden, ist seit dem letzten Jahr um 30 Prozent gestiegen.
UNICEF warnte, dass Gewalt, Armut und Verzweiflung die Kinder zu den bewaffneten Gruppen treiben. Viele Kinder und Jugendliche im Großraum Port-au-Prince sagen, dass sie gezwungen sind, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen, weil sie dort Schutz suchen oder weil dies Nahrung und Einkommen für die Familie bedeutet.
Zusätzlich zu Gewalt, Hunger und Krankheiten wie Cholera sind Haiti und seine Kinder ständig von heftigen Stürmen und Erdbeben bedroht. Anfang Juni verursachten schwere Regenfälle, die mit dem Beginn der Hurrikansaison zusammenfielen, zerstörerische und tödliche Überschwemmungen. Nur wenige Tage später folgte ein Erdbeben in Grand Anse - einer Region, die noch immer von einem Erdbeben im Jahr 2021 gezeichnet ist.
Von den schweren Überschwemmungen, die durch die sintflutartigen Regenfälle verursacht wurden, waren über 46.000 Menschen betroffen und über 13.000 weitere wurden vertrieben. Das Erdbeben der Stärke 4,9 am 6. Juni verschlimmerte die humanitäre Lage noch weiter.
Haiti ist das ärmste und am wenigsten entwickelte Land in der westlichen Hemisphäre und nicht in der Lage, die vielfältigen Schocks zu bewältigen.
"Trotz der enormen Herausforderungen hat die humanitäre Hilfe dazu beigetragen, eine katastrophale Hungersnot und Unterernährung abzuwenden. Aber es wird noch viel mehr benötigt. Die internationale Gemeinschaft darf Haitis Kindern in der Stunde der größten Not nicht den Rücken kehren", sagte Maes.
In diesem Zusammenhang fand am Freitag im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen ein hochrangiges Treffen zum Thema Ernährungsunsicherheit in Haiti statt. Ziel der Zusammenkunft war es, Maßnahmen und Ressourcen zur Unterstützung der Ernährungssicherheit in Haiti nach den jüngsten Überschwemmungen und dem Erdbeben zu mobilisieren. Während des Treffens betonten die Redner, dass die internationale Gemeinschaft jetzt dringend Maßnahmen ergreifen muss.
Cindy McCain, Exekutivdirektorin des Welternährungsprogramms (WFP), schlug Alarm und warnte, dass das WFP ohne 122 Millionen US-Dollar in den nächsten sechs Monaten nicht in der Lage sein werde, 1 Million Menschen zu unterstützen.
Sie rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, jetzt zu handeln und Nahrungsmittel und Bargeldtransfers zu ermöglichen, betonte sie: "Gemeinsam können wir etwas bewirken und den Menschen in Haiti helfen, ihr erschüttertes Leben wieder aufzubauen."
Catherine Russell, Exekutivdirektorin des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF), berichtete, dass das nationale Gesundheitssystem nicht in der Lage sei, auf die Unterernährungskrise und den anhaltenden Choleraausbruch im Land zu reagieren. Die internationale Gemeinschaft müsse davon abkommen, diese Krisen als getrennte Ereignisse zu behandeln, und die Situation in Haiti als eine längerfristige Entwicklungskrise betrachten, die durch wiederkehrende akute Notsituationen verschärft werde, betonte sie.
"Haiti befindet sich am Rande einer Katastrophe. Die Hälfte der Bevölkerung benötigt humanitäre Unterstützung, darunter fast 3 Millionen Kinder. Aber die Hälfte der Notleidenden erhält keine Hilfe - größtenteils wegen der unsicheren Lage und der unzureichenden Finanzierung der humanitären Hilfe", sagte Russell.
Die finanziellen Mittel reichen bei weitem nicht aus, um den humanitären Bedarf zu decken. Der Plan für humanitäre Hilfe (HRP) für Haiti für 2023 erfordert 719 Millionen US-Dollar und ist damit der größte Aufruf seit dem Erdbeben von 2010. Derzeit sind nur 22,6 Prozent des HRP abgedeckt.
"Zwei Millionen Menschen, darunter 1,6 Millionen Kinder und Frauen, leben in Gebieten, die von bewaffneten Gruppen kontrolliert werden - ihr Leben ist ständig durch Gewalt bedroht", fügte sie hinzu.
"Die Unsicherheit beeinträchtigt auch die Arbeit der humanitären Akteure, die die wachsende Lücke bei der Bereitstellung grundlegender Versorgungsleistungen schließen müssen."
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass im Jahr 2023 mehr als 5,2 Millionen Menschen (46 % der Bevölkerung) humanitäre Hilfe benötigen werden. Gewalt, weit verbreitete Armut, steigende Lebenshaltungskosten, eine geringe landwirtschaftliche Produktion und teure Lebensmittelimporte haben die bestehende Ernährungsunsicherheit in Haiti noch verschärft, so dass viele Frauen, Männer und Kinder unter Hunger und Unterernährung leiden.
Laut der jüngsten IPC-Analyse zur Ernährungssicherheit sind 4,9 Millionen Menschen - mehr als 40 Prozent der Bevölkerung - von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Etwa 1,8 Millionen Menschen leiden unter einer Hungernotlage. Die Zahl der Kinder, die von schwerer Auszehrung betroffen sind, ist landesweit auf mehr als 115.000 angestiegen. Nahezu ein Viertel der Kinder in Haiti ist chronisch unterernährt.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Fast 3 Millionen Kinder brauchen Unterstützung in Haiti - höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen, UNICEF-Pressemitteilung, veröffentlicht am 15. Juni 2023 (in Englisch)
https://www.unicef.org/press-releases/nearly-3-million-children-need-support-haiti-highest-number-record
Vollständiger Text: Dringende Maßnahmen zur Bewältigung der schweren Nahrungsmittelkrise in Haiti erforderlich, um Leben zu retten, betonen die Redner auf der Sondersitzung des Wirtschafts- und Sozialrats, ECOSOC-Pressemitteilung, veröffentlicht am 16. Juni 2023 (in Englisch)
https://press.un.org/en/2023/ecosoc7132.doc.htm