Angesichts der katastrophalen Menschenrechtslage und der schweren humanitären Krise in dem karibischen Land hat der UN-Menschenrechtsexperte für Haiti alle Staaten aufgefordert, niemanden zwangsweise nach Haiti zurückzuführen. Diese Stellungnahme erfolgt vor dem Hintergrund, dass zwischen Januar und Juni dieses Jahres mehr als 121.000 Frauen, Kinder und Männer nach Haiti abgeschoben wurden.
„Die Menschenrechtslage in Haiti ist in jeder Hinsicht katastrophal. In meinen 30 Jahren Arbeit in und über das Land habe ich noch nie ein solches Ausmaß an anhaltender Gewalt und Angst erlebt“, sagte Bill (William) O'Neill, der vom UN-Hochkommissar für Menschenrechte ernannte Experte für Menschenrechte in Haiti.
„Derzeit gibt es keine Möglichkeit für eine sichere, würdige und nachhaltige Rückkehr der Haitianer, die sich im Ausland befinden. Wenn überhaupt, ist ihr Land viel gefährlicher als das, aus dem sie geflohen sind.“
In einer Stellungnahme vom Freitag warnte der UN-Experte, dass Entführungen, Morde, sexuelle Gewalt und andere schwere Menschenrechtsverletzungen und -verstöße ein dramatisches Ausmaß erreicht hätten.
Seit Anfang 2025 haben Wellen extremer Brutalität zu zahlreichen Opfern geführt. Nach Angaben des UN-Büros für Menschenrechte (OHCHR) wurden allein in den ersten fünf Monaten des Jahres mehr als 2.700 Menschen im Zusammenhang mit Bandenkriminalität getötet.
Haiti steht außerdem vor einer schweren humanitären Krise, die durch die eskalierende Gewalt und den damit einhergehenden Zusammenbruch der Grundversorgung verschärft wird. Bewaffnete Gruppen haben ihre Kontrolle über die Hauptstadt verstärkt und sich weit über deren Grenzen hinaus ausgebreitet, sodass die Bevölkerung unter der Gewalt der Banden leidet.
Die Gewalt hat mindestens 1,3 Millionen Haitianer zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen, darunter die Hälfte Kinder. Die Zahl der Vertriebenen ist seit Dezember letzten Jahres um 25 Prozent gestiegen. Haiti hat nun die höchste Zahl an Menschen, die jemals durch Gewalt vertrieben wurden – 11 Prozent der Bevölkerung.
Haiti gehört zu den fünf Ländern der Welt, in denen die Menschen am stärksten von Hunger, Unterernährung und Verhungern bedroht sind.
Wenn nicht schnell Maßnahmen ergriffen werden, um die Lage zu deeskalieren, die Vertreibungen zu stoppen und umfassende humanitäre Hilfe zu leisten, wird sich die Situation weiter verschärfen.
Mit mehr als der Hälfte der Bevölkerung, die unter akuter Ernährungsunsicherheit leidet, befindet sich Haiti in einer schweren Hungerkrise. Der jüngste Bericht zur Ernährungssicherheit zeigt, dass aufgrund der andauernden Bandenkriminalität und des fortdauernden wirtschaftlichen Zusammenbruchs 5,7 Millionen Menschen akut hungern – so viele wie nie zuvor.
Laut der Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheit (IPC) leiden mehr als 2 Millionen Menschen unter einer Hungernotlage (IPC-Phase 4). Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) schätzt, dass über 1 Million haitianische Kinder der IPC-Phase 4 ausgesetzt sind.
Gleichzeitig sind etwa 8.400 Menschen wahrscheinlich von Hunger in katastrophalem Ausmaß betroffen (IPC-Phase 5). Die IPC-Phase 5 ist die kritischste Stufe der akuten Ernährungsunsicherheit. Die Menschen, die sich in dieser Phase befinden, leiden unter extremer Nahrungsmittelknappheit und schwerer akuter Unterernährung, wodurch sie von Verhungern bedroht sind.
Laut OHCHR werden Kinder in Haiti regelmäßig für Banden rekrutiert. Sexuelle Gewalt hat erheblich zugenommen, wobei Gruppenvergewaltigungen zur Ausbeutung, Demütigung und Machtdemonstration eingesetzt werden. Die Hilfsangebote für Überlebende sind jedoch begrenzt, und Sexualstraftaten bleiben weitgehend straffrei.
Das Land gehört zu den fünf Ländern mit der höchsten Zahl an Kindern, die im vergangenen Jahr Opfer sexueller Gewalt geworden sind, und mit der höchsten Zahl an schweren Verstößen gegen die Rechte von Kindern.
Die Bandenkriminalität hat sich über die Hauptstadt Port-au-Prince hinaus auf den Norden des Landes ausgeweitet. Auch die großen städtischen Zentren und Straßen im Zentralplateau, einer wichtigen Lebensader für den Norden Haitis, werden von Banden kontrolliert. Das Artibonite-Tal, die Kornkammer des Landes, steht mittlerweile weitgehend unter der Kontrolle von Banden.
„Kurz gesagt, derzeit ist kein Ort in Haiti sicher“, so O'Neill.
Nach dem Völkerrecht verpflichtet der Grundsatz der Nichtzurückweisung Staaten, niemanden aus ihrem Hoheitsgebiet oder ihrer Hoheitsgewalt an einen Ort zurückzuschicken, wo begründete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er Gefahr läuft, verfolgt, gefoltert, misshandelt, verschleppt oder auf andere Weise irreparablen Schaden zu erleiden.
O'Neill bekräftigte die Aufrufe des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Volker Türk, und des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge, Filippo Grandi, an alle Staaten, von einer zwangsweisen Rückführung von Personen nach Haiti abzusehen.
Dies gilt auch für „Personen, deren Asylanträge abgelehnt wurden oder die aus anderen Gründen keinen internationalen Schutz benötigen, und rechtliche Aufenthaltsregelungen mit angemessenen Garantien in Betracht zu ziehen“.
Der karibische Inselstaat wird seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 von Bandenkriminalität und Instabilität heimgesucht. Die nationale Polizei ist unterbesetzt und schlecht ausgerüstet und nicht in der Lage, die Banden daran zu hindern, die Bevölkerung insbesondere in der Hauptstadt Port-au-Prince zu terrorisieren.
Die anhaltende bewaffnete Gewalt hat Haiti an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung, also sechs Millionen Menschen, darunter 3,3 Millionen Kinder, benötigen humanitäre Hilfe.
Unterdessen ist die Finanzierung weiterhin auf einem kritischen Tiefstand. Bis heute sind nur 8 Prozent des Humanitären Bedarfs- und Reaktionplans für Haiti für 2025 finanziert, wobei von den benötigten mehr als 908 Millionen US-Dollar nur etwas mehr als 75 Millionen US-Dollar eingegangen sind.