Angesichts der eskalierenden Gewalt in Haiti hat der Leiter der UN-Nothilfe, Tom Fletcher, eindringlich um internationale Unterstützung ersucht, um das immense Leid zu lindern. Fletcher verbrachte drei Tage in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, wo er sich mit Menschen in Not, Regierungsvertretern, humanitären Partnerorganisationen und Diplomaten traf. Unterdessen beschleunigen die UN angesichts der dramatischen Lage und der massiven Finanzierungslücken die Unterstützung für Vertriebene und Aufnahmegemeinschaften in Haiti.
Fletcher, der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator, äußerte seine Besorgnis um Familien, insbesondere Frauen und Kinder, die dringend grundlegende Versorgung wie Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser, Bildung und einen Hoffnungsschimmer für eine bessere Zukunft benötigen.
Viele dieser Familien wurden aufgrund der eskalierenden Gewalt mehrfach vertrieben und sehnen sich nach einer Chance, ihr Leben neu aufzubauen. Mindestens 1,3 Millionen Haitianer mussten aufgrund der Gewalt aus ihren Häusern fliehen, die Hälfte davon sind Kinder.
Seit Dezember letzten Jahres ist die Zahl der Vertriebenen um 25 Prozent gestiegen. Derzeit hat Haiti mit 11 Prozent den höchsten Anteil an durch Gewalt vertriebenen Menschen.
Haiti befindet sich aufgrund der eskalierenden Bandenkriminalität und des damit einhergehenden Zusammenbruchs lebenswichtiger Versorgungsdienste in einer gravierenden humanitären Krise. Bewaffnete Gruppierungen haben ihre Kontrolle über die Hauptstadt verstärkt und sich weit über deren Grenzen hinaus ausgebreitet.
Die anhaltende bewaffnete Gewalt hat das Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung – 6 Millionen Menschen, darunter 3,3 Millionen Kinder – benötigt humanitäre Hilfe. Der jüngste Bericht zur Ernährungssicherheit zeigt, dass aufgrund der Gewalt und des anhaltenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs eine Rekordzahl von 5,7 Millionen Menschen unter akutem Hunger leidet.
Zum Abschluss seines Besuchs in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince betonte der Nothilfekoordinator am Mittwoch, dass er sich „im Namen der Welt“ schäme, weil man nicht anerkenne, was die Menschen in Haiti durchmachen müssen.
Am Dienstag besuchte er das Hôpital Universitaire La Paix, das einzige öffentliche Krankenhaus in Port-au-Prince, das schwerwiegende Fälle behandeln kann und trotz der aktuellen Sicherheitskrise für Hilfesuchende geöffnet bleibt.
Die Einrichtung ist an ihre Grenzen gestoßen und musste ihre Leistungen im Bereich der Geburtshilfe reduzieren. Fletcher sagte, dass Frauen und Mädchen am stärksten betroffen sind, während Familien, die alles verloren haben, in provisorischen Unterkünften zusammengepfercht sind.
In einer Notunterkunft in der Hauptstadt, wo viele Menschen vor der zunehmenden Unsicherheit Zuflucht gesucht haben, sprach Fletcher mit Menschen, deren Leben durch brutale Gewalt erschüttert wurde. Die Lebensbedingungen sind extrem schwierig, viele Familien wurden mehrfach vertrieben.
„Was ich höre, sind Menschen, die einfach nur nach Würde suchen. Sie wollen ein Leben wie alle anderen führen. Und sie wurden mehrfach vertrieben. Ich meine, viele der Familien sagen, dass sie mindestens zwei- oder dreimal durch Gewalt vertrieben wurden“, sagte Fletcher.
Der Nothilfekoordinator betonte, dass die Menschen dort Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser, Bildung für ihre Kinder und den Wiederaufbau ihres Lebens wollen – und dass die Welt mehr für sie tun muss.
„Es ist einfach nicht genug. Das reicht nicht aus. Ich bin wütend. Und ehrlich gesagt schäme ich mich für die Welt, dass wir es nicht schaffen, mitfühlender und freundlicher zu sein und anzuerkennen, was die Menschen hier durchmachen“, sagte er.
„Ich kann nicht glauben, dass wir so große Schwierigkeiten haben, die notwendigen Mittel aufzubringen, um diese Familien beim Wiederaufbau ihres Lebens zu unterstützen. Wir können uns nicht vorstellen, was sie durchgemacht haben, aber wir müssen für sie da sein. Wir müssen mehr tun.“
Haiti ist nach wie vor einer der UN-Nothilfeaufrufe, für den weltweit am wenigsten Mittel zur Verfügung gestellt werden. Bis heute sind weniger als 12 Prozent der erforderlichen Mittel eingegangen – nur 105 Millionen US-Dollar von den benötigten 908 Millionen US-Dollar, um 3,9 Millionen Menschen zu unterstützen.
In einem Jugendzentrum traf der Nothilfekoordinator junge Menschen, die trotz der Gewalt entschlossen sind, neue Fähigkeiten zu erlernen. Das Zentrum betreut Jugendliche und junge Erwachsene aus Gemeinden, die von bewaffneter Gewalt betroffen sind, sowie solche, die in Lagern für Binnenvertriebene im Großraum Port-au-Prince leben, wo der Zugang zu Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten begrenzt ist.
Bei seinem Treffen mit haitianischen Regierungsvertretern, darunter Premierminister Alix Didier Fils-Aimé und Laurent Saint-Cyr, Präsident des präsidialen Übergangsrats, erörterte Fletcher Möglichkeiten zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und der Regierung, zum Schutz der von Gewalt betroffenen Menschen und zur Bewältigung der schwierigen politischen und sicherheitspolitischen Lage in Haiti.
Der hochrangige UN-Vertreter traf sich auch mit Partnern aus humanitären Hilfsorganisationen und Mitgliedern der diplomatischen Gemeinschaft.
Vor seiner Abreise besuchte er ein Zentrum, das Frauen und Mädchen unterstützt, die geschlechtsspezifische Gewalt überlebt haben, und sprach mit Frauen, die brutale sexuelle Übergriffe erlitten und durch die Gewalt ihre Familien und ihr Zuhause verloren haben. Geschlechtsspezifische Gewalt hat in Haiti ein beispielloses Ausmaß erreicht. Zwischen Januar und Juli meldeten Hilfsorganisationen mehr als 6.200 Übergriffe. Fast die Hälfte dieser Fälle waren Vergewaltigungen.
Während Fletchers Besuch in Haiti die dringende humanitäre Lage in den Fokus rückte, stellte der Nothilfekoordinator zudem aufgrund der sich verschärfenden Gewalt und Vertreibung im Land 9 Millionen US-Dollar aus dem Zentralen Nothilfefonds der Vereinten Nationen (CERF) bereit.
Diese neuen Mittel werden es den Vereinten Nationen und ihren Partnern ermöglichen, die lebensrettende Hilfe für die am stärksten gefährdeten Menschen auszuweiten, darunter diejenigen, die aus ihren Häusern und Aufnahmegemeinden in den Departements Centre und Artibonite geflohen sind und unter akutem Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, Unterkünften, Gesundheitsversorgung, sanitären Einrichtungen und Schutz leiden.
Aufgrund des enormen Bedarfs werden die neuen CERF-Mittel durch eine Zuweisung von 4 Millionen US-Dollar aus dem regionalen humanitären Fonds für Lateinamerika und die Karibik ergänzt, die ebenfalls zur Unterstützung von Vertriebenen und Aufnahmegemeinden in den Departements Centre und Artibonite bestimmt ist. Darüber hinaus hat der regionale Fonds 500.000 US-Dollar für Maßnahmen zur Vorbereitung auf tropische Wirbelstürme bereitgestellt.
Diese zusätzlichen Mittel in Höhe von insgesamt 13,5 Millionen US-Dollar kommen zu einem kritischen Zeitpunkt, da die humanitären Hilfsmaßnahmen weiterhin mit drastischen Engpässen zu kämpfen haben. Fletchers Besuch folgte auf die eindringliche Warnung von UN-Generalsekretär António Guterres vor der dramatischen humanitären Lage in Haiti, die er als "schändlich vernachlässigt und völlig unterfinanziert" bezeichnete.
Haiti gehört zu den fünf Brennpunkten des Hungers weltweit, wo die Menschen unter extremen Hunger, Auszehrung und Tod leiden. Die Lage wird sich nur verschlimmern, wenn nicht umgehend Maßnahmen ergriffen werden, um die Konflikte zu deeskalieren, die Vertreibung der Menschen zu stoppen und groß angelegte Hilfsmaßnahmen zu leisten.
Laut der Integrierten Klassifizierung der Ernährungssicherheit (IPC) sind unter den 5,7 Millionen Menschen, die Hunger leiden, über 2 Millionen Haitianer, die sich in einer Notlage (IPC-Phase 4) befinden. UNICEF schätzt, dass mehr als 1 Million haitianische Kinder von der IPC-Phase 4 betroffen sind.
Auch die bewaffnete Gewalt gegen Kinder hat ein beispielloses Ausmaß erreicht. Allein im Jahr 2024 hat UNICEF über 2.269 schwere Gewalttaten gegen 1.373 Kinder gemeldet.