In Afghanistan droht sich die humanitäre Krise weiter zu verschärfen, da Hunderttausende Afghanen gezwungen werden, aus Nachbarländern zurückzukehren, und die weltweite Krise der humanitären Finanzierung das Land schwer belastet. Zahlreiche Organisationen der Vereinten Nationen haben als Reaktion auf massive Finanzierungslücken drastische Sparmaßnahmen angekündigt, nachdem die neue US-Regierung in Washington brutale Kürzungen ihrer Hilfsmittel vorgenommen hat.
Millionen Afghanen – insbesondere Kinder und Frauen – kämpfen weiterhin ums Überleben in einer der größten, am stärksten vernachlässigten und komplexesten humanitären Krisen der Welt. Die Vereinten Nationen schätzen, dass in diesem Jahr 22,9 Millionen Menschen – darunter 12,3 Millionen Kinder – humanitäre Hilfe und Schutz benötigen.
Seit 2023 sind mehr als 3,4 Millionen Afghanen unter Androhung ihrer Abschiebung aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt oder wurden abgeschoben, davon allein mehr als 1,5 Millionen im Jahr 2024. Diese Massenrückführungen haben die Kapazitäten vieler Provinzen in Afghanistan überlastet und das Risiko weiterer Binnenvertreibungen verschärft.
Anfang Oktober 2023 hat die pakistanische Regierung erstmals einen Plan zur Rückführung „illegaler Ausländer“ vorgelegt und ihnen mit Deportation gedroht. Die pakistanische Regierung hat internationale Forderungen, die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge zu stoppen, ignoriert. Im September 2024 kündigte der Iran ebenfalls an, bis Anfang 2025 bis zu zwei Millionen Afghanen abzuschieben.
Im Februar dieses Jahres kündigte Pakistan einen Plan für die „unmittelbare“ und rasche Massenabschiebung von weiteren fast drei Millionen afghanischen Flüchtlingen aus seinem Hoheitsgebiet an.
Allein im April kehrten mehr als 251.000 Afghanen unter bedrückenden Umständen aus dem Iran und Pakistan zurück, darunter mehr als 96.000, die abgeschoben wurden. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) benötigt dringend 71 Millionen US-Dollar, um den Menschen zu helfen, die unter verzweifelten Bedingungen in ihre Heimat zurückkehren.
„Das UNHCR setzt sich weiterhin bei den Regierungen des Iran und Pakistans dafür ein, dass die Rückkehr nach Afghanistan freiwillig, sicher und in Würde erfolgen muss. Afghanen zur Rückkehr zu zwingen oder Druck auf sie auszuüben, ist nicht tragbar und könnte die Region destabilisieren“, erklärte UNHCR-Sprecher Babar Baloch am Dienstag vor Journalisten in Genf.
„Das UNHCR ist sich der vielen Herausforderungen bewusst, denen diese Länder, die seit Jahrzehnten Millionen Afghanen aufgenommen haben, gegenüberstehen, darunter auch wirtschaftlicher Druck. Wir haben jedoch auch immer wieder unsere Besorgnis zum Ausdruck gebracht, dass Menschen, die zur Rückkehr nach Afghanistan gezwungen werden, unabhängig von ihrem rechtlichen Status ernsthaften Schutzrisiken ausgesetzt sein könnten.“
Bis 2024 beherbergten die fünf Nachbarländer Iran, Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan mehr als 8 Millionen Afghanen, darunter 5,5 Millionen registrierte Flüchtlinge und Asylsuchende.
Baloch äußerte sich besonders besorgt über das Schicksal von Frauen und Mädchen, die unter der Herrschaft der Taliban zunehmend Einschränkungen beim Zugang zu Beschäftigung, Bildung und Bewegungsfreiheit ausgesetzt sind.
Afghanistan befindet sich in einer schweren Menschenrechtskrise, vor allem weil die De-facto-Behörden die Rechte von Frauen und Mädchen im Land gezielt einschränken, indem sie ihnen den Zugang zum öffentlichen und politischen Leben, zu wirtschaftlichen Aktivitäten und zur Bildung verwehren, was die humanitäre Lage der weiblichen Bevölkerung weiter verschärft.
Die Taliban-Regierung wird von keinem anderen Land offiziell anerkannt, und die Vereinten Nationen haben wiederholt Anträge der De-facto-Behörden Afghanistans abgelehnt, das Land international zu vertreten, vor allem wegen der Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen.
Im Januar 2025 kündigte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) an, Haftbefehle gegen hochrangige Taliban-Führer in Afghanistan zu beantragen, denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, und verwies dabei auf die weit verbreitete Verfolgung der weiblichen und LGBTQI+-Bevölkerung des Landes.
Am Dienstag erklärte der Sprecher des UNHCR, dass auch ethnische und religiöse Minderheiten, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten bei ihrer Rückkehr gefährdet sein könnten. Diese Bedenken wurden durch die akute humanitäre Notlage in Afghanistan, steigende Arbeitslosenquoten sowie Naturkatastrophen und extreme Wetterereignisse noch verstärkt.
„Es gab auch neue Vertreibungen in den Iran und nach Pakistan und ein erhöhtes Risiko für Weiterwanderungen nach Europa. Im Jahr 2024 waren Afghanen mit 41 Prozent die größte Gruppe der irregulären Einwanderer aus dem asiatisch-pazifischen Raum nach Europa“, sagte Baloch.
„Das UNHCR arbeitet mit Partnern wie dem UNDP [Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen] und der IOM [Internationale Organisation für Migration] zusammen, um die wachsende Zahl von Rückkehrern in Afghanistan zu unterstützen. Angesichts der derzeitigen Finanzierungsunsicherheiten benötigen wir 71 Millionen US-Dollar, um in den nächsten neun Monaten auf diese Krise in der gesamten Region reagieren zu können.“
Der Regionale Flüchtlingsreaktionsplan (RRP) für Afghanistan für 2025 benötigt 624,5 Millionen US-Dollar, um 7,3 Millionen Menschen zu helfen, darunter 4,8 Millionen Afghanen und 2,5 Millionen ihrer lokalen Gastgeber in der gesamten Region. Bislang sind nur 7 Prozent des RRP finanziert.
Laut dem Humanitären Bedarfs- und Reaktionsplan für Afghanistan 2025 (HNRP) werden in diesem Jahr rund 2,4 Milliarden US-Dollar benötigt, um 16,8 Millionen Menschen mit humanitärer Hilfe zu versorgen, darunter Nahrungsmittel, Gesundheitsversorgung, Ernährung, Schutz, Unterkünfte sowie Wasser, Sanitäranlagen und Hygiene (WASH). Bislang sind nur 10 Prozent des HNRP finanziell gedeckt.
Der humanitäre Bedarf ist in ganz Afghanistan aufgrund der kumulativen Auswirkungen von gewaltsamen Konflikten, Vertreibung, Dürre und anderen Naturkatastrophen dramatisch gestiegen. Fast ein Drittel der Afghanen leidet weiterhin Hunger.
Laut der jüngsten IPC-Analyse zur Ernährungssicherheit waren bis März 2025 mehr als 14,8 Millionen Menschen in Afghanistan von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter 3,1 Millionen Menschen, die sich in einer Hungernotlage befanden.
Rund 3,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden an akuter Unterernährung oder sind davon bedroht und benötigen dringend Hilfe. Darunter sind etwa 867.000 Fälle von schwerer akuter Unterernährung (SAM) und fast 2,6 Millionen Fälle von moderater akuter Unterernährung (MAM).
Darüber hinaus leiden schätzungsweise 1,2 Millionen schwangere und stillende Frauen an akuter Unterernährung.
Unterernährung ist in Afghanistan seit langem ein kritisches Problem der öffentlichen Gesundheit, das durch das komplexe Zusammenspiel verschiedener Faktoren verursacht wird. Anhaltende Dürre, Naturkatastrophen, Vertreibung der Bevölkerung, ein starker Anstieg der Lebenshaltungskosten, Ernährungsunsicherheit und weit verbreitete Arbeitslosigkeit haben zu dieser Krise beigetragen.
Nach Angaben der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) steigt die Zahl der Fälle akuter Unterernährung täglich und belastet die begrenzten Ressourcen der Gesundheitseinrichtungen und mobilen Gesundheitsteams (MHTs) insbesondere in den Provinzen Kandahar und Paktika enorm.
Nothilfekoordinator besucht Afghanistan
Tom Fletcher, Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator, besucht derzeit Afghanistan. Am Dienstag war er in Kandahar, wo er mit dem de facto Provinzgouverneur Mullah Shirin Akhund zusammentraf, um die dringende Bewältigung der anhaltenden humanitären Krise zu erörtern.
Fletcher besuchte eine Aufnahmeeinrichtung für die wachsende Zahl afghanischer Rückkehrer aus Pakistan, in der die Vereinten Nationen und ihre humanitären Partner Unterstützung leisten, darunter Gesundheitschecks und Bargeld.
Der UN-Nothilfekoordinator besuchte auch das Mirwais Regional Hospital, wo medizinische Teams trotz brutaler Mittelkürzungen alles tun, um die Intensivversorgung, auch für Mütter und Neugeborene, aufrechtzuerhalten. Er warnte, dass die Einrichtungen aufgrund der schwindenden Ressourcen überfüllt sind und die Ärzte vor unmögliche Entscheidungen gestellt werden, welche Patienten sie vorrangig behandeln sollen.
Weltweit werden lebensrettende Maßnahmen aufgrund drastischer Mittelkürzungen weiterhin eingestellt, was zu Millionen von Todesfällen führen wird, warnte Fletcher am Mittwoch.
„Die Kürzung von Mitteln für die bedürftigsten Menschen ist nichts, womit man prahlen sollte“, sagte der oberste Hilfsbeauftragte der Vereinten Nationen. “Für Millionen Menschen ist das ein Todesurteil.“
In ganz Afghanistan mussten bisher mehr als 400 Gesundheitseinrichtungen schließen, wodurch mehr als 3 Millionen Menschen den Zugang zu medizinischer Grundversorgung verloren haben.
Am Mittwoch weilte Fletcher in Kunduz, wo er sich mit dem de facto Provinzgouverneur Mohammad Khan Dawat zusammentraf und sich ein Bild davon machte, wie Hilfsorganisationen in Afghanistan weiterhin Menschen in Not erreichen, darunter auch eine wachsende Zahl von Rückkehrern.
In einer Klinik, die Impfungen, Gesundheitsversorgung für Mütter und Ernährungshilfe anbietet, sprach der UN-Nothilfekoordinator mit Gesundheitspersonal darüber, wie der Zugang zu lebenswichtiger Versorgung immer weiter eingeschränkt wird, da die Ressourcen schwinden und andere Gesundheitseinrichtungen schließen müssen.
Die Mitarbeiter berichteten ihm von schwangeren Frauen, die ihre Babys verlieren, weil die Gesundheitsdienste aufgrund der großen Entfernungen und hohen Kosten nicht erreichbar sind.
Fletcher erfuhr auch, wie Kürzungen der Finanzmittel die lebensrettende Minenräumung in Afghanistan lähmen, wo jeden Monat durchschnittlich 55 Menschen durch Landminen getötet oder verletzt werden – 80 Prozent davon sind Kinder, oft beim Spielen oder auf dem Weg zur Schule.
Afghanistan versinkt immer tiefer in sozioökonomischer Krise
In einem neuen Bericht, der am Mittwoch vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen veröffentlicht wurde, wird davor gewarnt, dass Afghanistan aufgrund wachsender Ungleichheiten, die Frauen und bestimmte Regionen besonders hart treffen, immer tiefer in eine sozioökonomische Krise abrutscht.
Laut UNDP gaben 90 Prozent der afghanischen Haushalte, die mit dem Verlust von Produktionsmitteln, Lebensgrundlagen, Arbeitsplätzen und Einkommensmöglichkeiten konfrontiert sind, an, ihren täglichen Verbrauch durch Einsparungen reduzieren zu müssen, wodurch ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks abnimmt und ihre Gefährdung zunimmt.
Angesichts der anhaltenden Einschränkungen der Bildung und Beschäftigung von Frauen zeigt der Bericht, dass sich die Kluft zwischen den Geschlechtern vergrößert hat, wodurch Frauen noch tiefer in Armut und soziale Ausgrenzung gedrängt werden. In ländlichen Gebieten, in denen 71 Prozent der Bevölkerung leben, mangelt es nach wie vor an grundlegenden Daseinsleistungen wie Gesundheitsversorgung und sanitären Einrichtungen, und es fehlen nachhaltige Erwerbsmöglichkeiten.
„Die aktuelle Analyse und die neuen Daten des UNDP deuten auf eine Fortsetzung der zutiefst beunruhigenden Entwicklung für die afghanische Bevölkerung hin, die seit einem Jahrzehnt mit extremer Vulnerabilität zu kämpfen hat“, sagte Kanni Wignaraja, UN-Untergeneralsekretärin und UNDP-Regionaldirektorin für Asien und den Pazifikraum.
„Angesichts der erwarteten Rückkehr von Hunderttausenden Menschen in diesem Jahr und einer deutlichen Verringerung der internationalen Unterstützung werden die afghanischen Gemeinden vor erhebliche Herausforderungen gestellt sein, die den Druck auf die ohnehin schon prekäre Lebensgrundlage weiter erhöhen werden.“