Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) beschuldigt Israel in einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht, Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza zu begehen. Es ist das erste Mal, dass die führende nichtstaatliche Menschenrechtsorganisation während eines aktiven Konflikts eine solche Anschuldigung erhebt. Der Begriff Völkermord beschreibt Gewaltverbrechen, die gegen eine Gruppe mit der Absicht begangen werden, die Existenz der Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.
Die Menschenrechtsorganisation ist sehr vorsichtig, wenn sie Amtsträger eines der schlimmsten Verbrechen beschuldigt, welche die Menschheit kennt. Amnesty International gab jedoch an, dass ihre Ermittler genügend Beweise gefunden haben, um zu dem Schluss zu kommen, dass Israel einen Völkermord an den Palästinensern im besetzten Gazastreifen begangen hat und weiterhin begeht.
Die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 definiert Völkermord als eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; Auferlegung von Maßnahmen, die auf die Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe gerichtet sind; oder gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Völkermord gilt neben Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem Verbrechen der Aggression als eines der schwersten internationalen Verbrechen. Der Amnesty-Bericht ist der jüngste von mehreren Berichten, in denen israelische Amtsträger für Völkermord verantwortlich gemacht werden, aber er ist der bislang umfassendste und vermutlich fundierteste.
„Der Bericht von Amnesty International zeigt, dass Israel Handlungen begangen hat, die nach der Völkermordkonvention verboten sind, und zwar mit der spezifischen Absicht, die Palästinenser in Gaza zu vernichten. Zu diesen Handlungen gehören Tötungen, die Verursachung schwerer körperlicher oder psychischer Schäden und die absichtliche Zufügung von Lebensbedingungen für Palästinenser in Gaza, die auf ihre physische Vernichtung abzielen“, sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
„Monat für Monat behandelt Israel die Palästinenser in Gaza als eine untermenschliche Gruppe, die der Menschenrechte und der Menschenwürde nicht würdig ist, und demonstriert damit seine Absicht, sie physisch zu vernichten.“
In dem Bericht von Amnesty heißt es, dass Israel seit dem tödlichen grenzüberschreitenden Angriff palästinensischer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober 2023 „unerbittliche Luft- und Bodenangriffe durchgeführt hat, viele davon mit schweren Sprengwaffen, die massive Schäden verursacht und ganze Wohnviertel und Städte in Gaza dem Erdboden gleichgemacht haben, zusammen mit ihrer lebenserhaltenden Infrastruktur, landwirtschaftlichen Flächen und kulturellen und religiösen Stätten und Symbolen, die tief im kollektiven Gedächtnis der Palästinenser verankert sind.“
„Die Militäroffensive Israels hat Zehntausende Palästinenser getötet und schwer verletzt, darunter Tausende Kinder, viele von ihnen bei gezielten oder wahllosen Angriffen, die oft ganze Mehrgenerationenfamilien ausgelöscht haben“, heißt es in dem Bericht, in dem außerdem darauf hingewiesen wird, dass 90 Prozent der 2,1 Millionen Einwohner des Gazastreifens gewaltsam vertrieben wurden.
Seit Beginn des Krieges im vergangenen Oktober haben israelische Sicherheitskräfte mehr als 44.500 Menschen getötet und mehr als 105.000 weitere verletzt, die meisten davon Zivilisten. Mehr als 10.000 Menschen – darunter Tausende von Kindern – werden vermisst und gelten als tot.
Schätzungen zufolge wird ein Viertel der Verletzten in Gaza lebenslange spezialisierte Rehabilitation und unterstützende Pflege benötigen, darunter Menschen mit schweren Gliedmaßenverletzungen, Amputationen, Rückenmarksverletzungen, traumatischen Hirnverletzungen und schweren Verbrennungen.
Unter den Todesopfern befinden sich mindestens 343 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, 253 UN-Mitarbeiter, 1047 Mitarbeiter des Gesundheitswesens und 183 Journalisten. Seit dem vergangenen Oktober wurden bei den Angriffen Israels auf Gaza mehr als 160.000 Menschen, das sind über 7 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens, getötet, verwundet oder als vermisst gemeldet.
Gaza steht am Rande einer Hungersnot, wobei mehr als 2 Millionen Menschen mit schwerwiegender Nahrungsmittelknappheit konfrontiert sind, während gleichzeitig die Krankheitsraten hoch sind, Unterkünfte unzureichend sind und der Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen eingeschränkt ist. Etwa 1,9 Millionen Menschen – 90 Prozent der Gesamtbevölkerung von Gaza – wurden durch israelische Militärangriffe oder israelische Evakuierungsbefehle vertrieben, darunter Menschen, die gezwungen waren, Dutzende Male zu fliehen.
„[Israel] hat die Einfuhr und Lieferung lebensrettender Güter und humanitärer Hilfe absichtlich behindert oder verweigert“, heißt es in dem Bericht, der zu dem Schluss kommt, dass "es genügend Beweise dafür gibt, dass das Verhalten Israels in Gaza nach dem 7. Oktober 2023 einem Völkermord gleichkommt".
„Diese Verbrechen waren und sind vorsätzliche Handlungen, die bewusst darauf abzielen, die Palästinenser in Gaza zu vernichten. Sie wurden auch völlig ungestraft begangen. Die Schlussfolgerung, dass Israel einen Völkermord begeht, ist eindeutig und basiert auf Beweisen„, sagte Callamard.
Amnesty International zitierte auch die Äußerungen einiger israelischer Regierungsvertreter.
„Hochrangige israelische Militär- und Regierungsbeamte forderten verstärkt die Vernichtung der Palästinenser in Gaza und verwendeten dabei eine rassistische und entmenschlichende Sprache, die palästinensische Zivilisten mit dem Feind gleichsetzte, der vernichtet werden müsse“, heißt es in dem Bericht.
„In einer weithin veröffentlichten Erklärung auf einer Pressekonferenz am 12. Oktober 2023 machte Präsident Isaac Herzog alle Palästinenser in Gaza für die Angriffe der Hamas verantwortlich: 'Es ist eine ganze Nation da draußen, die dafür verantwortlich ist. Diese Rhetorik, dass die Zivilbevölkerung nichts davon wusste und nicht beteiligt war, ist nicht wahr' “, heißt es im Amnesty-Bericht.
Diese Sprache spiegelte sich auf dem Schlachtfeld wider, sagte Callamard.
„Wir haben Aussagen gefunden, in denen zu völkermörderischen Handlungen und anderen Verbrechen nach internationalem Recht aufgerufen wird“, sagte sie gegenüber Reportern.
„Wir haben Videos von Soldaten überprüft, die diese Narrative wiederholen und dazu aufrufen, Gaza auszulöschen oder unbewohnbar zu machen.“
Der Amnesty-Bericht ist der jüngste in einer Folge von Berichten, in denen Israel des Völkermords beschuldigt wird, und trägt zu der wachsenden Zahl von Anhaltspunkten bei, dass die Politik und die Militäraktionen Israels, die sich gegen Palästinenser als Gruppe richten, einem Völkermord gleichkommen, einem der schlimmsten Verbrechen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist.
Die UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den palästinensischen Gebieten, Francesca Albanese, sagte am 25. März 2024, dass es „vernünftige Gründe für die Annahme“ gebe, dass Israel einen Völkermord begehe. Albanese fand starke Hinweise darauf, dass die israelische Exekutive und die Militärführung sowie die Soldaten in Gaza mit genozidaler Absicht handeln.
Nach einer Analyse der Handlungen und Gewaltmuster Israels bei seinem Angriff auf Gaza, der entmenschlichenden Rhetorik hochrangiger israelischer Amtsträger und der Handlungen der Soldaten vor Ort kam die Sonderberichterstatterin in ihrem Bericht zu dem Schluss, dass die Schwelle für die Feststellung eines Völkermordes durch Israel erreicht sei.
In einem am 14. November 2024 veröffentlichten Bericht des UN-Sonderausschusses zur Untersuchung israelischer Praktiken, die die Menschenrechte des palästinensischen Volkes und anderer Araber in den besetzten Gebieten betreffen, wurde festgestellt, dass Israels Krieg in Gaza den Merkmalen eines Völkermords entspricht, mit massenhaften zivilen Opfern und lebensbedrohlichen Bedingungen, die den dortigen Palästinensern absichtlich auferlegt wurden.
Der Ausschuss erklärte, dass Israel durch die Verhängung einer Belagerung über Gaza, die Behinderung der humanitären Hilfe und die gezielte Tötung von Zivilisten und Helfern trotz wiederholter Appelle der Vereinten Nationen, verbindlicher Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) und Resolutionen des Sicherheitsrats vorsätzlich Tod, Hunger und schwere Verletzungen verursache, indem es den Hunger als Methode der Kriegsführung einsetze und die palästinensische Bevölkerung kollektiv bestrafe.
Im Januar begann der Internationale Gerichtshof mit der Anhörung eines von Südafrika eingebrachten Falls, in dem Israel beschuldigt wird, in seinem Krieg gegen Gaza Völkermord begangen zu haben. Südafrika forderte den Internationalen Gerichtshof auf, die sofortige Einstellung der Militäraktionen Israels in Gaza anzuordnen.
In einer Grundsatzentscheidung vom 26. Januar bestätigte der Internationale Gerichtshof, dass Palästinenser ein Recht darauf haben, vor Völkermord geschützt zu werden, und forderte Israel auf, „alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen zu ergreifen“, um Handlungen zu verhindern, die einem Völkermord gleichkommen.
Zu den vorläufigen Maßnahmen, die das Gericht anordnete, gehörte auch, dass Israel dringend benötigte humanitäre Hilfe in die vom Krieg zerrüttete Enklave hineinlassen und die Bereitstellung dringend benötigter Grundversorgungsleistungen für die dort lebenden Palästinenser ermöglichen muss. Die israelische Regierung erfüllt diese Anordnung jedoch nicht.
Seit Oktober 2023 spielt sich im Gazastreifen eine beispiellose humanitäre Katastrophe ab, bei der Menschen durch weit verbreitete Angriffe, Krankheiten und Hunger sterben. Israelische Bombardierungen aus der Luft, vom Land und vom Meer aus halten unvermindert im gesamten Gebiet an und führen zu weiteren zivilen Verlusten an Menschenleben, Verletzungen, Verstümmelungen, Vertreibungen und zur Zerstörung der zivilen Infrastruktur.
Führende Vertreter der Vereinten Nationen haben die Situation in Gaza als „apokalyptisch“, „Hölle auf Erden“, „jenseits von katastrophal“, und als „dystopischen Albtraum“ bezeichnet und gesagt, dass der humanitären Gemeinschaft „die Worte ausgehen, um zu beschreiben, was in Gaza geschieht“.
Der neue Amnesty-Bericht fügt nun weitere Erkenntnisse hinzu, die belegen, dass die Handlungen der israelischen Regierung und der Militärs einem Völkermord gleichkommen.
„Unsere vernichtenden Ergebnisse müssen der internationalen Gemeinschaft als Weckruf dienen: Dies ist Völkermord. Er muss jetzt aufhören“, sagte Callamard.
In ihren Ausführungen betonte die Generalsekretärin von Amnesty International, dass die Verbündeten Israels, darunter die Vereinigten Staaten, Deutschland und Grossbritannien, sich an dem mutmasslichen Völkermord mitschuldig machen könnten, und forderte sie auf, die Waffenlieferungen einzustellen. Diese Länder unterstützen die Operationen und Aktionen Israels weiterhin politisch und militärisch.
„Staaten, die auch weiterhin Waffen an Israel liefern, müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie damit gegen ihre Verpflichtung zur Verhinderung von Völkermord verstoßen und Gefahr laufen, sich an einem Völkermord mitschuldig zu machen“, sagte sie.
„Alle Staaten, die Einfluss auf Israel haben, insbesondere wichtige Waffenlieferanten wie die USA und Deutschland, aber auch andere EU-Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich und andere, müssen jetzt handeln, um Israels Gräueltaten gegen die Palästinenser in Gaza sofort zu beenden.“
Neben Völkermord zählen zu den kriminellen Handlungen im Rahmen der Völkermordkonvention auch die Verschwörung zum Völkermord, die direkte und öffentliche Anstiftung zum Völkermord, der Versuch, einen Völkermord zu begehen, und die Begünstigung eines Völkermordes. All diese Handlungen sind schwere Straftaten.
Jenseits des Völkermordvorwurfs ist der Krieg in Gaza durch schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch israelische Streitkräfte gekennzeichnet. Dazu gehören die kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung, der Einsatz von Hunger als Kriegsmittel, die Verweigerung humanitärer Hilfe, die gezielte Tötung von Zivilisten, die wahllose Tötung von Zivilisten, unverhältnismäßige Angriffe, gewaltsame Vertreibung, Folter, Verschleppungen und andere Gräueltaten.
Am 21. November 2024 erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit der Lage in Gaza.
Die Richter des IStGH stellten fest, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass jeder von ihnen das Kriegsverbrechen des Einsatzes von Hunger als Mittel der Kriegsführung und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Mordes, der Verfolgung und anderer unmenschlicher Handlungen begangen hat. Die Vorverfahrenskammer stellte auch hinreichende Gründe für die Annahme fest, dass jeder von ihnen für das Kriegsverbrechen der Ausrichtung von Angriffen gegen Zivilisten verantwortlich ist.
„Die im vergangenen Monat vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ausgestellten Haftbefehle gegen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bieten den Opfern echte Hoffnung auf längst überfällige Gerechtigkeit“, sagte Callamard.
„Die Staaten müssen ihre Achtung vor der Entscheidung des Gerichts und den universellen Grundsätzen des Völkerrechts unter Beweis stellen, indem sie die vom IStGH gesuchten Personen verhaften und ausliefern.“
Amnesty International fordert die Anklagebehörde des IStGH auf, dringend in Erwägung zu ziehen, Völkermord in die Liste der von ihr untersuchten Verbrechen aufzunehmen, und alle Staaten auf, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Täter vor Gericht zu bringen.
„Niemandem sollte es erlaubt sein, Völkermord zu begehen und ungestraft davon zu kommen“, sagte Callamard.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Israel/Besetztes Palästinensisches Gebiet: „Man fühlt sich wie ein Untermensch“: Israels Völkermord an den Palästinensern in Gaza, Amnesty International, Bericht, veröffentlicht am 5. Dezember 2024 (in Englisch)
https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2024/12/MDE1586682024ENGLISH.pdf