Die Bekämpfung der Unsicherheit in Haiti, wo die Gewalt von Gangs Tausende von Menschen getötet und verletzt sowie Zehntausende vertrieben hat, muss oberste Priorität haben, heißt es in einem am Freitag veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen, der die haitianischen Behörden und die internationale Gemeinschaft auffordert, mehr für den Schutz der Menschen zu tun und weiteres Leid zu verhindern. Die humanitäre Krise in dem Karibikstaat verschlimmert sich zusehends, wobei mehr als 5,5 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
In den vergangenen drei Jahren war Haiti Angriffen von bewaffneten Banden ausgesetzt, die 80 bis 90 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince kontrollieren oder beeinflussen. Nach den jüngsten Zahlen des UN-Menschenrechtsbüros (OHCHR) wurden zwischen Januar und September dieses Jahres mindestens 3.661 Menschen getötet.
„Es sollten keine weiteren Menschenleben durch diese sinnlose Kriminalität verloren gehen“, betonte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk in einer Stellungnahme.
„Ich begrüße die jüngsten positiven Schritte, wie die Einsetzung eines Übergangspräsidentenrates, die neue Übergangsregierung und die Entsendung der ersten Kontingente der Multinationalen Sicherheitsunterstützungsmission (MSS)“, so Türk.
„Es ist jedoch klar, dass die Mission angemessene und ausreichende Ausrüstung und Personal benötigt, um die kriminellen Banden wirksam und nachhaltig zu bekämpfen und zu verhindern, dass sie sich weiter ausbreiten und das Leben der Menschen zerstören.“
Bisher wurde ein Vorauskontingent von etwa 430 Einsatzkräften der MSS nach Haiti entsandt, darunter 410 speziell ausgebildete Polizeibeamte, von denen 383 aus Kenia, 25 aus Jamaika und 2 aus Belize stammen.
Im Oktober letzten Jahres ermächtigte eine Resolution des UN-Sicherheitsrats die Multinationale Sicherheitsunterstützungsmission, die haitianische Nationalpolizei bei der Bekämpfung der Gewalt und der Wiederherstellung des Friedens in dem weitgehend von Banden beherrschten Land zu unterstützen.
Die Entsendung der internationalen Polizeikontingente, die bis zu 2.500 Polizisten umfassen sollen, wird als einer von mehreren Meilensteinen bei der Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität in Haiti angesehen. Es ist jedoch unklar, wann der Rest der Truppe eintreffen wird.
Nach Ansicht der Vereinten Nationen braucht Haiti eine Kombination aus verstärkten nationalen Polizeikräften, der raschen Entsendung der MSS-Mission und glaubwürdigen Wahlen, um das Land wieder auf den Weg der Sicherheit und Stabilität zu bringen.
Das UN-Menschenrechtsbüro unterstützt die MSS bei der Einrichtung und Umsetzung eines Compliance-Mechanismus, mit dem sichergestellt werden soll, dass der operative Rahmen und die Praktiken der Mission mit den internationalen Menschenrechtsstandards übereinstimmen und dass mögliche Verstöße im Einklang mit der Resolution 2699 des Sicherheitsrats wirksam angegangen werden.
Der OHCHR-Bericht an den UN-Menschenrechtsrat (HRC), der den Zeitraum bis Juni abdeckt, beschreibt äußerst schwerwiegende Fälle von Menschenrechtsverletzungen und -vergehen in ganz Port-au-Prince und im Departement Artibonite sowie im südlichen Teil des Departements West, der bis vor kurzem weitgehend von der Gewalt verschont geblieben war.
In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden nach Angaben des OHCHR mindestens 2.652 Menschen getötet und 1.280 weitere Personen durch die Gewalt von Banden im Land verletzt. Darüber hinaus wurden mindestens 893 Menschen von Banden entführt und zur Lösegelderpressung festgehalten.
Auch die Zahl der Opfer sexueller Gewalt, einschließlich Vergewaltigungen, ist in der ersten Jahreshälfte gestiegen. Dem Bericht zufolge „setzten Banden weiterhin sexuelle Gewalt ein, um die Bevölkerung zu bestrafen, Angst zu verbreiten und zu unterdrücken."
Während des Berichtszeitraums wurden bei Polizeieinsätzen und -patrouillen in Port-au-Prince mindestens 860 Menschen getötet und 393 verletzt, darunter mindestens 36 Kinder, was eine unnötige und unverhältnismäßige Gewaltanwendung darstellen könnte. Die Gangs haben auch eine große Anzahl von Kindern in ihre Reihen rekrutiert.
Nach Angaben des OHCHR waren Januar und Februar 2024 die gewalttätigsten Monate in Haiti seit mehr als zwei Jahren, was auf heftige Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Banden zurückzuführen ist, die von ihrem Streben nach territorialer Kontrolle und Expansion angetrieben werden.
Zwischen März und Juni 2024, nach der Flucht berüchtigter Bandenführer aus den beiden wichtigsten Gefängnissen der Hauptstadt, dokumentierte das UN-Menschenrechtsbüro einen Anstieg der Drohungen und Angriffe von bewaffneten Banden gegen Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Amtsträger, darunter Richter und Polizisten, sowie deren Familien.
In der Region Artibonite, dem landwirtschaftlichen Kernland des Landes, haben eskalierende Bandengewalt und Erpressung die Landwirte gezwungen, mehr als 3.000 Hektar Land aufzugeben, was die Nahrungsmittelproduktion Haitis weiter gefährdet - zu einer Zeit, in der schätzungsweise 1,6 Millionen Menschen im Land von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind.
Türk forderte die haitianischen Behörden auf, entschlossene Schritte zu unternehmen, um die Polizei und andere staatliche Institutionen, die durch die endemische Korruption gelähmt sind, einschließlich der Justiz, zu stärken, sodass die Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt wird und die Verantwortlichen für Verstöße und Missbräuche zur Rechenschaft gezogen werden können.
Außerdem rief er die Behörden auf, Kinder vor Banden zu schützen, die Anstrengungen zur Bekämpfung sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu verdoppeln und Binnenvertriebene zu schützen. Im August waren noch immer fast 600.000 Menschen Binnenvertriebene, davon 270.000 in den südlichen Departements Haitis.
Der Hochkommissar forderte die internationale Gemeinschaft überdies auf, das vom UN-Sicherheitsrat verhängte gezielte Waffenembargo, Reiseverbot und Einfrieren von Vermögenswerten vollständig umzusetzen, um die Bandengewalt in Haiti einzudämmen.
In dem Karibikstaat haben rund 5 Millionen Menschen - die Hälfte der Bevölkerung - nicht genug zu essen, wobei 1,64 Millionen Frauen, Kinder und Männer vom Verhungern bedroht sind. Es wird erwartet, dass bis Ende des Jahres 276.000 Kinder unter 5 Jahren an akuter Unterernährung leiden werden.
Das Gesundheitssystem, das am Rande des Zusammenbruchs steht, ist durch die jüngste Gewalt und die jahrelangen Unterinvestitionen stark geschwächt. Nur 24 Prozent der Krankenhäuser und Gesundheitsdienste im Großraum Port-au-Prince sind voll funktionsfähig.
„Die Krise in Haiti ist eine langwierige menschliche Tragödie mit einer langen und bekannten Geschichte. Sie ist eine der katastrophalsten humanitären Situationen der Welt“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Botschaft an ein Ministertreffen zu Haiti in New York am Mittwoch.
„Die internationale Gemeinschaft hat die Verantwortung, das haitianische Volk bei seinen Bemühungen um die Wiederherstellung der Stabilität zu unterstützen.“
In der vergangenen Woche hat die Übergangsregierung sieben der neun Mitglieder des provisorischen Wahlrats ernannt, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu freien und fairen Wahlen.
Wenngleich Guterres einige Fortschritte bei der Schaffung von Strukturen für eine provisorische Regierungsführung feststellte und die ersten Entsendungen der MSS-Mission als positiven Schritt lobte, warnte er, dass "die haitianische Bevölkerung immer noch ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen durch Banden ausgesetzt ist. Junge Frauen und Mädchen leiden nach wie vor unter einem erschreckenden Maß an sexueller Gewalt und Missbrauch“.
Der Treuhandfonds für die MSS-Mission beläuft sich derzeit auf 85,3 Millionen Dollar, sagte er.
„Die Finanzierung der Mission und der haitianischen Nationalpolizei ist jedoch nach wie vor völlig unzureichend. Ich fordere alle, die finanzielle Zusagen gemacht haben, auf, diese dringend einzuhalten. Wir müssen weiter daran arbeiten, ausreichende Mittel für die Mission und die humanitäre Hilfe in Haiti zu mobilisieren“, so Guterres.
Ohne zusätzliche Mittel wird sich die humanitäre Krise in Haiti voraussichtlich noch weiter verschärfen.
„Es besteht ein dringender Bedarf an Ressourcen zur Unterstützung der humanitären Bemühungen. Der Humanitäre Bedarfs- und Reaktionsplan für Haiti, der sich auf insgesamt 674 Millionen Dollar beläuft, ist derzeit nur zu 39 Prozent finanziert“, fügte er hinzu.
Weitere Informationen
Vollständiger Text: Situation der Menschenrechte in Haiti, Zwischenbericht des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (A/HRC/57/41), Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte, veröffentlicht am 27. September 2024 (in Englisch)
https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc5741-situation-human-rights-haiti-interim-report-united-nations-high